Das Paradies
selbst sorgen zu können. Sie hatten betteln, stehlen oder ihren Körper verkaufen müssen, um zu überleben. Eine Frau saß wegen Mord – es war eine Prostituierte, die ihren Zuhälter erschlagen hatte. Man hätte sie hingerichtet, wenn sich die Gefängnispsychologin nicht direkt an den Präsidenten gewandt hätte, der sie zu lebenslanger Haft begnadigte. Sie hieß Ruhija und war achtzehn.
In der Nacht nach dem Anschlag auf Mansours Zeitung war es zu einer Verhaftungswelle gekommen. Man hatte Dahiba und Hakim in ihrer Wohnung festgenommen. Die Polizei war gewaltsam in die Wohnung gedrungen, hatte alles durchwühlt und Papiere und Bücher beschlagnahmt. Aber man hatte erlaubt, daß Zeinab von Radwan in die Paradies-Straße gebracht wurde. Dahiba sah ihren Ehemann zum letzten Mal auf der Polizeiwache, wo man ohne formelle Anschuldigung ihre Fingerabdrücke zu den Akten nahm. Man brachte sie in einem Polizeifahrzeug weg, während Hakim seinen Protest durch die Nacht schrie. Aber niemand hörte ihn.
Dahiba erreichte das Gefängnis im Morgengrauen. Dort nahm man ihr ohne Erklärung Kleider und Schmuck ab, gab ihr einen groben grauen Kittel und eine Decke und schob sie unsanft in die Zelle, in der sie sich nun mit den anderen Frauen befand. In den zwanzig Tagen, die seither vergangen waren, hatte sie von draußen weder ein Wort gehört, noch mit einem Anwalt oder einem Gefängnisbeamten gesprochen.
Jasmina war später, aber noch am selben Vormittag in die Zelle gekommen. Man hatte sie in der Wohnung von Jakob getrennt, und sie waren in verschiedenen Fahrzeugen weggebracht worden. Im Gefängnis nahm man ihr die schöne, goldbestickte Galabija ab, und sie erhielt wie Dahiba den groben Kittel und die Decke. Ihr einziger Trost in den qualvollen drei Wochen war der Gedanke, daß sich ihre Tochter bei der Familie in Sicherheit befand.
Aber was war mit Jakob geschehen? Diese Frage stellte sie sich Tag und Nacht in der kahlen Zelle, die für acht Frauen nichts außer vier Pritschen enthielt. War er in einer ähnlichen Lage? Befand er sich mit anderen Männern in einer Gefängniszelle? Oder hatte man ihn bereits vor Gericht gestellt und verurteilt? Verbüßte er nun eine lebenslange Haftstrafe wegen Hochverrats? War er überhaupt noch am Leben?
Und was war aus Onkel Hakim geworden?
In den ersten Stunden der Angst und Verwirrung hatten Jasmina und Dahiba sich gegenseitig gestärkt, getröstet und sich damit beruhigt, daß man sie jeden Augenblick freilassen werde. Die Familie würde sie nicht im Gefängnis sitzenlassen, sagten sie. Ibrahim und Khadija hatten viele einflußreiche Freunde.
Doch die Stunden wurden zu Tagen. Die beiden beteuerten sich gegenseitig immer wieder, daß ihre Entlassung nur eine Frage der Zeit sei – obwohl die dritte politische Gefangene in der Zelle seit über einem Jahr ohne jede Verbindung mit der Außenwelt war. Aber sie ließen sich nicht beirren. Sie vertrauten auf Gott und ihre Familie und waren entschlossen, das Beste aus ihrer schrecklichen Lage zu machen.
Die anderen Frauen kannten die beiden Neuankömmlinge und fanden, als Stars sollten sie bevorzugt behandelt werden. »Sie sind berühmt«, sagte Ruhija den anderen in ehrfurchtsvollem Ton. »Sie sind besser als wir.« Alle stimmten ihr zu. Die Wärterin des Blocks, eine Fellachenfrau, die glaubte, sie sei durch den bösen Blick in der Stunde ihrer Geburt verflucht worden, sah allerdings keinen Grund, die beiden bevorzugt zu behandeln. Sollen sie doch Geld spucken, wie die anderen, die etwas Besseres sind, sagte sie sich.
Man hatte Dahiba und Jasmina alle Wertsachen abgenommen, und deshalb mußten sie wie ihre Mitgefangenen leben.
Das Essen – jede Mahlzeit bestand aus gekochten Bohnen und schwarzem Tee – war zwar reichlich, aber nahezu ungenießbar. In der Zelle gab es keine Toilette, und sie mußten abwechselnd auf der einen Pritsche schlafen, die die anderen Frauen ihnen überließen. Dreimal am Tag holte man sie aus der Zelle: morgens zum Gebet und zum Frühstück, mittags zum Gebet und zum Mittagessen, bei Sonnenuntergang zum Gebet, zum Abendessen und zum Rundgang im Gefängnishof. Die anderen beiden Gebete waren in der Zelle zu verrichten. Auch die persönliche Hygiene mußte dort erledigt werden. Dabei teilten sich alle Frauen einen Eimer Wasser und ein kleines Stück Seife.
Besonders nachts, wenn die Lichter gelöscht waren und die Frauen aus Angst oder Zorn nicht einschlafen konnten, vertrieben sie sich die heißen
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