Das Paradies
Septemberstunden mit leisen verzweifelten Gesprächen. Allmählich lernten Dahiba und Jasmina ihre Zellengenossinnen besser kennen. Sie waren Ausgestoßene, denen die Justiz jede Gerechtigkeit verweigerte, nur weil sie Frauen waren. Aus ihren Geschichten lernten die beiden viel. Die schreiende Ungerechtigkeit ließ sich an den Praktiken der Justiz klar und deutlich beweisen.
Das Gesetz bestraft eine Frau mit dem Tod, die einen Mann getötet hat, und sei es auch in Notwehr. Ein Mann, der eine Frau tötet, wird selten auch nur festgenommen, denn, so sagt man, er verteidigt seine Ehre.
Das Gesetz verfolgt die Prostituierten, niemals den Mann, der ihre Dienste in Anspruch nimmt.
Das Gesetz ist blind gegenüber dem Mann, der Frau und Kinder verläßt, aber es bestraft die verlassene Frau, die Essen stiehlt, um ihre Kinder zu ernähren.
Das Gesetz ist streng, wenn eine Ehefrau ihren Mann verläßt, gibt jedoch dem Ehemann das Recht, seine Frau ganz nach Belieben zu verlassen, ohne Vorkehrungen für ihren Lebensunterhalt zu treffen.
Das Gesetz bestimmt, daß ein Mädchen als Neunjährige und ein Junge als Siebenjähriger rechtmäßiges Eigentum des Vaters werden, selbst wenn er nicht mehr mit der Mutter der Kinder verheiratet ist. Er kann ihr die Kinder wegnehmen und ihr die Erlaubnis verweigern, sie jemals wiederzusehen.
Das Gesetz erlaubt einem Mann, seine Frau zu schlagen oder jedes Mittel zu benutzen, um ihre Unterwürfigkeit zu erhalten.
Fünf der sechs Frauen, die mit Dahiba und Jasmina die Zelle teilten, konnten weder lesen noch schreiben. Sie hatten niemals etwas von Feminismus gehört und konnten sich nicht vorstellen, weshalb die beiden Stars im Gefängnis waren. Aber je länger sie zusammen in der Zelle waren, desto mehr wuchs das Verständnis füreinander.
»Es ist eine Anmaßung der Männer«, las Ibrahim seiner Mutter vor, »die Herrschaft über uns Frauen zu beanspruchen. Es ist eine maßlose Arroganz, die in Verbindung mit ihrer Ignoranz brutale Tyrannen aus ihnen macht.
Ein zorniges Kind, das sich hilflos fühlt, schlägt auf alles in seiner Reichweite ein. Männer tun das auch. Ein Beispiel ist der Mann, der seine Frau schlägt, weil sie ihm nur Töchter schenkt.
Aber das Geschlecht des Kindes wird vom Sperma des Mannes, nicht durch das Ei der Frau bestimmt. Deshalb ist es die ›Schuld‹ des Mannes, wenn er keine Söhne bekommt. Richtet er seinen Zorn gegen sich selbst? Nein, er läßt seine Wut über das Versagen an der unschuldigen Frau aus.«
Ibrahim legte die Zeitung beiseite. Khadija stand auf und ging zu den Stufen, die vom Pavillon hinunterführten. Dort blieb sie stehen und blickte über den Garten, wo Bäume wuchsen, die schon bei ihrer Ankunft vor fünfundsechzig Jahren alt gewesen waren.
Sie schloß die Augen, atmete die exotischen Düfte ein, die die Luft erfüllten, und dachte: Meine Enkeltochter ist eine tapfere Frau. Für mich war die Fessel der Ehe ein selbstverständliches Los, das ich wie viele Frauen zu einer Tugend gemacht habe. Khadija war innerlich aufgewühlt. Seit Dahibas und Jasminas Verhaftung quälten sie Alpträume. Sie erlebte den Überfall in der Wüste in allen Einzelheiten, und außer den Todesschreien um sie herum hörte sie eine Stimme, die ihr die Schuld an dem Blutvergießen gab.
Wie konnte das sein? Aber eine Schuld lastete ihr auf der Seele. Im Traum glaubte sie, daran zu ersticken, und wenn sie aufwachte, wurde sie das Gefühl nicht los: Ich habe etwas Wichtiges noch nicht verstanden. Die mutigen Worte ihrer Enkelin lösten seltsame Gedanken in ihr aus. Sie fragte sich: Jasmina, willst du den Frauen sagen, daß wir uns bereits schuldig machen, wenn wir den Machtanspruch der Männer hinnehmen, wenn wir ihnen glauben, daß wir schwach sind? Die Männer behaupten, sie seien stark. Aber wir alle wissen, auch der Stärkste findet jemanden, der noch stärker ist. Es kommt auf die Folgen an, die Stärke nach sich zieht. Sie werden den schwächen, der seine Stärke mißbraucht. Wir aber werden so lange Opfer dieses Mißbrauchs sein, bis wir die Schwäche, die sie uns vorwerfen, nicht aus innerster Überzeugung zurückweisen können. Ihr stockte der Atem: Liegt da mein Versagen, das die Stimme im Traum mir vorwirft?
»Weshalb habe ich nie etwas davon erfahren?« fragte sie und wandte sich an Ibrahim. Sie befanden sich allein im Pavillon. Die anderen Mitglieder der Familie waren entweder im Gefängnis und versuchten, Jasmina und Dahiba Essen und Geld
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