Das Paradies
wir würden von Windeln und nicht vom Libanon reden.«
»Glaubst du wirklich, Greg hätte dich mit dem Kind sitzenlassen? Ich meine, er ist doch ein anständiger Kerl.«
»Anständig ja. Aber du hättest das Entsetzen in seinen Augen sehen sollen, als ich ihm gesagt habe, daß ich schwanger bin.«
»Nun ja«, sagte Rachel und nahm den Koffer, der zu ihrem Erstaunen nicht schwer war. »Irgendwann findest du einen anderen Mann.«
Ich habe schon jemanden gefunden, dachte Amy und stellte sich Declan vor, der zur Zeit im Irak arbeitete und versuchte, die Kurden medizinisch zu versorgen. Declan, den sie liebte, den sie aber niemals haben konnte.
Amy betrachtete die Frau, die in den einsamsten Stunden ihre Freundin gewesen war, die sie in den dunklen Tagen nach der Fehlgeburt getröstet hatte, die sie beim Eintritt in die fremde neue Welt an der Universität kameradschaftlich unterstützte und das Trauma des Kulturschocks mit ihrer praktischen Art gemildert hatte.
»Danke, daß du dir Sorgen um mich machst, Rachel«, sagte sie.
»Weißt du was?« Rachel blieb an der Wohnungstür stehen. »Ich werde dich ganz schrecklich vermissen.« Die Tränen traten ihr in die Augen. »Vergiß mich nicht, Amy. Und denk immer daran, daß du eine Freundin hast, wenn du jemals in Schwierigkeiten bist und Hilfe brauchst.« Sie zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Ausgerechnet in den Libanon! Großer Gott!«
Sie umarmten sich, und Amy sagte: »Wir müssen los. Ich will schließlich mein Flugzeug erreichen!«
Ibrahim stürmte in den Salon. »Ich habe sie gefunden!« rief er. »Ich habe meine Schwester und meine Tochter gefunden!«
»Gepriesen sei Gott in SEINER Barmherzigkeit!« sagte Khadija, und die zahllosen Verwandten der Raschids, die auf den Diwanen und den Teppichen saßen, wiederholten den frommen Spruch wie ein Echo.
Ibrahim mußte sich in der drückenden Septemberhitze setzen und den Schweiß von der Stirn wischen. Die vergangenen drei Wochen, in denen er nach dem Verbleib von Dahiba und Jasmina geforscht hatte, waren wie ein Alptraum gewesen und hatten Erinnerungen an seinen Gefängnisaufenthalt vor beinahe dreißig Jahren geweckt.
Auch der Rest der Familie war verzweifelt. Auf die Nachricht von der Verhaftung waren selbst aus Assuan und Port Said Verwandte in das Haus in der Paradies-Straße geeilt. Dort belegten sie wie in alten Zeiten wieder einmal alle Gästezimmer und hielten die Küche Tag und Nacht in Gang. Die Onkel und Vettern, die in Kairo Beziehungen hatten, versuchten herauszufinden, wohin die Polizei Jasmina und Dahiba gebracht hatte. Auch einige der Frauen halfen dabei – Sakinna, deren beste Freundin mit einem hohen Regierungsbeamten verheiratet war, Fadilla, die einen Richter als Schwiegervater hatte, und Khadija, zu deren Freundinnen einflußreiche Frauen gehörten.
Aber nach den dreiwöchigen Erkundigungen, nach Bakschisch-Zahlungen und vergeudeten Stunden in Wartezimmern, die stets mit dem Wort
»Bukra«,
»Morgen«, endeten, waren immer noch keine Informationen über Jasmina und Dahiba zu erhalten gewesen. Bis jetzt.
Basima brachte Ibrahim ein Glas kalte Limonade. Er trank durstig und berichtete dann: »Einer meiner Patienten, Achmed Kamal, der im Justizministerium arbeitet, hat mich mit seinem Schwager bekannt gemacht, dessen Frau einen Bruder im Amt für Strafvollzug hat.« Ibrahim leerte das Glas und wischte sich die Stirn. Die Hitze machte ihm zu schaffen, und er spürte seine vierundsechzig Jahre. »Man hat Dahiba und Jasmina in das Frauengefängnis El Kanatir gebracht.«
Die Familie hielt entsetzt den Atem an. Jeder kannte das riesige gelbe Gebäude am Stadtrand von Kairo, das wie ein Hohn inmitten blühender Gärten und grüner Felder stand. Sie kannten auch alle die Schreckensgeschichten, die man sich über das Gefängnis erzählte.
»
Bismilla
!« flüsterte Khadija. Sie hatte die Geschichten und Gerüchte von Frauen gehört, die jahrelang ohne ein Verfahren, ohne ein offizielles Urteil als »politische Gefangene« in El Kanatir saßen. Jasmina und Dahiba waren politische Gefangene.
Sie durften keine Zeit verlieren. Khadija machte sich sofort daran, die Aufgaben zu verteilen.
Die Frauen stellten Schmuck zur Verfügung, der verkauft werden sollte, um Bestechungsgelder zu zahlen. Es war eine symbolische Geste, denn alle wollten mit etwas Persönlichem an der Befreiung von Dahiba und Jasmina mitwirken. In der Küche bereitete man Körbe mit Essen vor; Koffer mit
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