Das Paradies
Ibrahim zu sprechen. Sie ließen ihn in den Vorzimmern warten, bis er es aufgab und ging.
Andere, die Mitgefühl für seine Notlage aufbrachten, aber eingestandenermaßen Angst hatten, sagten: »
Malesch
. Tut mir leid.« Und jene, die sich keinen Nutzen davon versprachen, den Raschids zu helfen, zuckten die Schultern und sagten: »
Inschallah
! Finde dich damit ab. Es ist Gottes Wille.«
Selbst Nabil el-Fahed, der Antiquitätenhändler und Freund hoher Regierungsbeamter, war nach Jasminas Verhaftung für die Raschids nicht mehr zu sprechen.
Ein Wunder mußte geschehen, damit man Dahiba und Jasmina aus dem Gefängnis entließ.
Khadija übernahm die Rolle der Vorbeterin. Die Frauen rollten die Matten auf dem holprigen Pflaster des Parkplatzes vor dem Gefängnis aus und knieten mit dem Gesicht in Richtung Mekka. Trotz der Oktoberhitze bewegten sie sich im vollkommenen Gleichklang: sechsundzwanzig Frauen der Familie Raschid zwischen zwölf und achtzig Jahren. Zwei trugen islamische Kleidung, Khadija war in die traditionelle schwarze Melaja gehüllt, die übrigen trugen Röcke und Blusen oder Kleider. Omars älteste Tochter kniete in Jeans und einem T-Shirt unter ihnen.
Nach dem Gebet gingen sie zu den Wagen, den Stühlen und Sonnenschirmen zurück und nahmen ihr Strickzeug wieder auf oder unterhielten sich. Für Khadija stand ein Stuhl unter einem Kapokbaum bereit. Sie setzte sich und richtete den Blick unverwandt auf die häßlichen gelben Gefängnismauern. Es war der sechsundvierzigste Tag, den ihre Tochter und ihre Enkelin in der Zelle verbrachten.
Ibrahims Wagen fuhr auf den Parkplatz. »Ich habe Mansour ausfindig gemacht«, sagte Ibrahim so leise, daß niemand es hörte. »Sie haben ihn in der Zitadelle eingesperrt. Dort habe ich 1952 auch gesessen.«
Khadija erhob sich und streckte die Hand aus. »Bring mich zu ihm«, sagte sie. »Ich will mit ihm sprechen.«
Jasmina war krank. Sie lag auf dem Bett und versuchte, gegen die Krämpfe und Übelkeit anzukämpfen. Mit Entsetzen erinnerte sie sich an den Ausbruch der Cholera. Seit die Familie sie versorgte, hatten sie es vermieden, das Gefängnisessen anzurühren. Aber sie waren gezwungen, sich mit dem Wasser zu waschen, das jeden Tag in einem Eimer gebracht wurde und natürlich alles andere als hygienisch einwandfrei war.
Es bestand keine Möglichkeit, das Wasser abzukochen, da Streichhölzer verboten waren. Dahiba saß auf dem Bettrand und legte ihrer Nichte die Hand auf die Stirn. »Sie ist warm«, sagte sie mit einem besorgten Blick, denn sie dachte ebenfalls an Cholera.
»Was es auch sein mag«, flüsterte Jasmina schwach, »warum hast du es nicht auch?«
»Es liegt eindeutig daran, daß du etwas gegessen hast, was ich nicht gegessen habe. Etwas Gewürztes, das deinen Magen vorübergehend durcheinandergebracht hat. Ich bin sicher, es ist nichts …«
Jasmina drehte sich plötzlich zur Seite und übergab sich.
Dahiba eilte zur Tür und rief nach der Wärterin. »Wir brauchen einen Arzt! Schnell!« Die Frau rechnete mit einem Bakschisch und erschien sofort. Mit einem Blick auf Jasmina sagte sie mürrisch: »Er kommt nicht in die Zellen. Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Ich muß sie in die Krankenabteilung bringen.«
Die Wärterin stützte Jasmina. An der Tür schob sie Dahiba zurück. »Du bleibst hier«, sagte sie.
Der Gefängnisdirektor in der Zitadelle war wider Erwarten bereit, unter bestimmten Bedingungen Gefangenenbesuche zu erlauben. In Jakob Mansours Fall machte es eine großzügige Zuwendung von Ibrahim Raschid möglich.
Khadija bat ihren Sohn, im Büro des Direktors zu warten. Ein Wärter führte sie in einen kahlen Raum mit Tischen und Stühlen und Schrifttafeln an den Wänden, die sie nicht lesen konnte.
Nach einigen Minuten brachte man einen blassen, zerlumpten Mann herein. Er hinkte und war an Händen und Füßen gefesselt. Khadija blickte sich um. War jemand hier, der diesen Gefangenen besuchen wollte? Als der Wärter den Mann unsanft auf den Stuhl ihr gegenüber stieß, verschlug es ihr die Sprache.
Mansour hatte Prellungen und Platzwunden im Gesicht, die unbehandelt geblieben waren und eiterten. Als er den Mund öffnete, um zu sprechen, sah sie, daß ihm zwei Zähne ausgeschlagen worden waren. Khadija stiegen die Tränen in die Augen.
»Sajjida Khadija«, hörte sie ihn mit einer Stimme flüstern, die so rauh klang, als sei er am Verdursten oder habe zuviel geschrien. »Ich fühle mich geehrt. Gottes Friede sei mit
Weitere Kostenlose Bücher