Das Paradies
zukommen zu lassen, oder sie suchten in Kairos Bürokratie einen Weg, die Freilassung der beiden zu erreichen. »Wie konnte so etwas ohne mein Wissen geschehen?«
»Mutter«, sagte Ibrahim und trat neben sie unter den Rosenbogen vor dem Eingang des Pavillons. »Meine Tochter gehört zu einer neuen Generation Frauen. Ich verstehe sie nicht, aber sie entwickeln ein neues Selbstbewußtsein und haben den Mut, ihre Gedanken in Worte zu fassen.«
»Und du hattest Angst, mir zu sagen, daß sie solche Dinge schreibt?« Khadija lächelte. »Ibrahim, ich bin stolz auf sie. In meiner Jugend hatte ich nichts zu sagen. Man hat mich wie einen leblosen Gegenstand behandelt. Aber meine Tochter und meine Enkelin besitzen einen Mut, der mein Herz mit Stolz erfüllt. Jetzt zu dem Mann, der mit Jasmina verhaftet wurde. Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht, Mutter.«
»Suche ihn. Ich muß unbedingt wissen, was aus ihm geworden ist.«
Das Rasseln von Schlüsseln im Gang weckte sie aus dem Nachmittagsschlaf. In der kleinen Klappe der Eisentür tauchte das Gesicht der Wärterin auf. Es war keine Essenszeit, und deshalb warteten die Frauen gespannt, was geschehen würde. Manchmal wurde eine Gefangene ohne Vorankündigung abgeholt, kam nicht mehr zurück, und ihr Schicksal blieb ungewiß. Die Tür öffnete sich quietschend, und die Wärterin, eine stämmige Frau in einer fleckigen Uniform, sagte zu Dahiba und Jasmina: »Ihr zwei. Kommt mit.«
Dahiba nahm Jasmina bei der Hand, als sie die Zelle verließen. Die Frauen riefen ihnen nach: »Viel Glück! Gott sei mit euch!«
Zu ihrer großen Überraschung führte die Wärterin sie zu einer Zelle am Ende des Gangs. Es war eine Viererzelle, aber es standen nur zwei ordentlich gemachte Betten, ein Tisch und zwei Stühle darin. Durch das Fenster sah man Palmen und grüne Felder. Die Wärterin sagte: »Das ist eure neue Zelle«, und Dahiba rief: »Gott sei Dank, die Familie hat uns gefunden!« Wenige Minuten später brachte die Frau Körbe mit Essen, Kleider, Wäsche, Toilettenartikel, Schreibpapier und Kugelschreiber und einen Koran. Im Koran lag ein Umschlag mit Zehn- und Fünfzig-Piaster-Scheinen und ein Brief von Ibrahim.
Plötzlich hatten sie zuviel Essen. Dahiba wickelte ein Brot, Käse, kaltes Hühnchen und Obst in ein Geschirrtuch, gab die Dinge zusammen mit fünfzig Piastern der Wärterin und sagte: »Verteilen Sie das bitte unter den Frauen in der anderen Zelle. Und benachrichtigen Sie unsere Familie. Sagen Sie ihnen, daß es uns gut geht.«
Als sie allein waren, lasen sie Ibrahims Brief. Hakim Raouf, schrieb er, sei ebenfalls in einem Gefängnis, aber es gehe ihm gut. Der Anwalt Schoukri bemühe sich um seine Freilassung.
Was aus Jakob Mansour geworden war, den man zusammen mit Jasmina verhaftet hatte, wußte niemand.
Die Familie hielt Nachtwachen vor dem Gefängnis. Die Verwandten kamen Tag für Tag kurz nach Sonnenuntergang und parkten vor dem Tor, weil sie hofften, eingelassen zu werden. Sie wollten Jasmina und Dahiba unbedingt sehen und mit ihnen sprechen. Hin und wieder ließ ein Beamter der Gefängnisverwaltung Khadija oder Ibrahim durch das Gefängnistor. Es folgten höfliche Entschuldigungen – »politische Häftlinge dürfen keine Besucher empfangen« – und Versicherungen, daß es am nächsten Tag bessere Nachrichten gebe,
Inschallah
. Aber bei entsprechender Bezahlung wurde der Austausch von schriftlichen Nachrichten erlaubt, und man brachte Dahiba und Jasmina jeden Tag frisch gekochtes Essen aus der Paradies-Straße in die Zelle.
Ibrahim und Omar arbeiteten unermüdlich an der Freilassung der beiden Frauen. Sie machten die Runde in den Ämtern, forderten freundlich, aber entschlossen ausstehende Gefälligkeiten ein und trafen in Kaffeehäusern oder zu Hause Männer mit guten Beziehungen. Da Jasmina und Dahiba nicht wegen krimineller Vergehen festgenommen worden waren – dafür gab es bestimmte juristische Prozeduren und Vorgehensweisen –, sondern aus politischen Gründen, ein Sammelbegriff, der so unauslotbar war wie ein Sumpf, stand ihre Verteidigung auf unsicheren Füßen.
Eine Petition zugunsten der Gefangenen brachte den Bittsteller selbst in eine gefährliche Lage, denn damit setzte er sich dem Verdacht aus, selbst zu den politischen Feinden zu gehören. Jeder wußte von Anwälten, die Eingaben für Staatsgefangene eingereicht hatten und dafür im Gefängnis gelandet waren. Es gab viele, die sich aus diesem Grund sogar davor fürchteten, mit
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