Das Paradies
altmodischen Hutnadel fest und sagte: »Die Vermieterin übergibt alles der Heilsarmee. Dort, wo ich hingehe, werde ich nichts davon brauchen.«
Rachel betrachtete den Koffer, die Reisetasche und Amys Handtasche, und sie staunte, wie eine fünfunddreißigjährige Frau, eine
Ärztin
, ihr Leben auf so wenig Gepäck reduzieren konnte. Das Haus, in dem Rachel mit ihrem Mann Mort wohnte, quoll von Möbeln und allen möglichen Sachen über, so daß sie bereits daran dachten, sich ein größeres zu suchen.
»Der Libanon …«, murmelte Rachel kopfschüttelnd. »Wie um alles in der Welt bist du auf die Idee gekommen, dich für den Libanon zu melden? Noch dazu für die Flüchtlingslager?«
»Die palästinensischen Flüchtlinge sind Opfer. Du kannst mir glauben, ich weiß, was es bedeutet, ein hilfloses Opfer zu sein.« Amy sah im Spiegel, wie Rachel unwillig das Gesicht verzog. Deshalb sagte sie: »Du kannst es dir nicht vorstellen, aber wenn in Ägypten jemand von seiner Familie getrennt wird, kommt das manchmal einem Todesurteil gleich. Eine Frau ohne Familie hat das härteste Leben, das man sich vorstellen kann. Die Palästinenser sind Flüchtlinge. Die meisten sind aus dem Sippenverband gerissen worden. Frauen und Kinder haben am schwersten unter der politischen Tragödie zu leiden. Als ich von der Stiftung erfahren habe, daß sie dieses Projekt zusammen mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen plant, gab es für mich kein Zögern. Verstehst du, ich mußte mich einfach freiwillig melden.«
Aber Rachel seufzte bekümmert; sie schien sich Sorgen um Amy zu machen. Amy lachte und sagte: »Keine Angst, Unkraut vergeht nicht!« Sie öffnete den praktischen Leinenbeutel, den sie als Handtasche benutzte, da sich soviel darin verstauen ließ, und griff nach den letzten Sachen, die auf dem Bett bereitlagen, darunter auch ein Photo.
Rachel nahm das Photo in die Hand und betrachtete es. Sie kannte das Bild. Es zeigte fünf lachende Kinder in einem Garten. »Wer ist das noch? Ich weiß, eines der Mädchen bist du.«
Amy blickte ihr über die Schulter und deutete auf das älteste Kind. »Das ist mein Vetter Omar. Er war mein erster Ehemann. Das ist Tahia, seine Schwester. Sie und mein Bruder Zakki sollten heiraten. Aber aus irgendeinem Grund hat meine Großmutter beschlossen, Tahia mit einem älteren Verwandten namens Jamal zu verheiraten. Und das ist Jasmina …« Amy betrachtete wehmütig die dunkelhaarige Schönheit, die den Arm um Amy gelegt hatte.
»Und das ist dein Bruder?«
»Das ist Zacharias. Für uns war er immer nur Zakki. Wir Kinder waren glücklich zusammen und unzertrennlich. Er nannte mich Mischmisch, weil ich ganz versessen auf Aprikosen war.«
»Hast du nicht einmal gesagt, daß er verschwunden ist?«
»Er hat sich auf die Suche nach unserer Köchin gemacht, die eines Tages ohne Ankündigung das Haus verließ und nie mehr zurückkam. Niemand weiß, was aus Zakki geworden ist.«
Rachel gab Amy das Photo, und sie legte es in den Leinenbeutel. Als ihre Freundin den Koran sah, der als letztes darin verschwand, fragte sie: »Bist du dir deiner Sache sicher?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so sicher gewesen zu sein.«
»Warum habe ich dann das Gefühl, du willst dir etwas beweisen?«
Amy drehte sich um und blickte schweigend aus dem Fenster. Rachel trat zu ihr und sagte leise, aber eindringlich: »Du mußt dich mit deiner Vergangenheit aussöhnen. Ich glaube, du trägst zuviel Zorn mit dir herum, den du besänftigen mußt. Du solltest dich mit deiner Familie aussöhnen, anstatt davonzulaufen und dorthin zu gehen, wo gekämpft wird.«
»Rachel, du bist Gynäkologin, keine Psychologin. Glaub mir, ich habe mich mit meiner Vergangenheit ausgesöhnt. Jasmina hat meine Briefe nie beantwortet.«
»Vielleicht hat sie einfach zu große Schuldgefühle, weil sie dein Geheimnis verraten hat und du ihretwegen in Ungnade gefallen bist. Vielleicht solltest du es noch einmal versuchen.«
»Ganz gleich, aus welchen Gründen sie schweigt und meine ganze Familie in den vergangenen vierzehn Jahren geschwiegen hat, ich muß meinen eigenen Weg gehen. Ich weiß, was ich will, und ich weiß, wohin ich gehe.«
»Aber … in den Libanon! Du kannst erschossen werden!«
Amy lächelte und sagte: »Weißt du, Rachel, die Vorstellung ist seltsam, aber das Baby wäre um meinen Geburtstag herum zur Welt gekommen. Wenn es am Leben geblieben wäre, hätte ich jetzt ein vier Monate altes Kind, und du und ich,
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