Das Paradies
ich damals, als ich erfuhr, daß du nie das Haus verläßt. Natürlich wohnten auch damals viele andere Frauen mit dir zusammen. Aber Khadija, das ist über zwanzig Jahre her. Die Zeiten haben sich geändert! Der Harem ist abgeschafft. Die Frauen gehen heutzutage völlig ungezwungen in die Stadt. Hör zu, komm mit mir und Suleiman im Sommer nach Alexandria. Die Seeluft wird dir guttun.«
Khadija war einmal in Alexandria gewesen, weil Ali Raschid mit der ganzen Familie einen Sommer in seiner Villa am Mittelmeer verbringen wollte. Der Umzug aus dem heißen Kairo an die kühlere Nordküste war ein großer Aufwand gewesen. Tage vergingen mit den Reisevorbereitungen. Die Dienstboten packten Truhen und Kisten. Alle waren aufgeregt. Bei der Abfahrt aus der Paradies-Straße setzten sich die Frauen tief verschleiert in die Wagen und stiegen am Ziel ebenso verschleiert aus, um geradewegs in die Villa zu gehen. Khadija mochte Alexandria nicht. Vom Balkon ihres Sommerhauses konnte sie den Hafen sehen, die britischen Kriegsschiffe und die amerikanischen Überseedampfer. Sie war der Meinung, daß die Ausländer gefährliche und demoralisierende Lebensweisen nach Ägypten brachten.
»Hier im Haus werden alle ohne dich eine Zeitlang zurechtkommen«, fuhr Marijam fort, als Khadija schwieg.
Khadija lächelte und bedankte sich für die Einladung. Aber bei diesem alten Thema konnten sie nie eine Einigung finden. Jahr für Jahr hatte Marijam neue Argumente, um ihre Freundin dazu zu bewegen, sich von der alten Sitte loszusagen, die sie an das Haus fesselte. Marijam machte verlockende Vorschläge, aber Khadija sagte darauf stets: »Eine Frau muß nur zweimal im Leben aus dem Haus. Das erste Mal, wenn sie ihr Vaterhaus verläßt, um zu ihrem Mann zu ziehen. Das zweite Mal trägt man sie im Sarg aus dem Haus ihres Mannes.«
»Was soll das Gerede von Särgen!« rief Marijam. »Du bist eine junge Frau, Khadija, und jenseits dieser Mauern liegt eine wunderbare Welt. Du bist nicht mehr die Gefangene deines Mannes, du bist eine freie Frau.«
Aber nicht Ali Raschid hatte sie zu einer Gefangenen gemacht, das wußte Khadija. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, als Ali zu ihr gesagt hatte: »Khadija, meine Frau, die Zeiten ändern sich, und ich bin ein fortschrittlicher Mann. Frauen in ganz Ägypten legen den Schleier ab und gehen auf die Straße, wann immer sie wollen. Du hast meine Erlaubnis, jederzeit in die Stadt zu gehen, auch unverschleiert, wenn du das möchtest. Zu deiner Sicherheit soll dich nur stets jemand begleiten.«
Khadija hatte sich bei ihm bedankt, es aber abgelehnt, sich zu emanzipieren. Ali verstand das damals ebensowenig wie heute Marijam.
Khadija jedoch wußte, der eigentliche Grund für ihre starre Haltung lag in der Vergangenheit, in ihrer Kindheit, an die sie keine Erinnerung mehr hatte. Eine unbestimme Angst quälte sie, die sie nicht benennen konnte. Über ihrem Leben lag ein dunkles Geheimnis, und solange es ihr nicht gelang, dieses Geheimnis zu lösen, und sie den Grund ihrer Angst nicht kannte, würde sie hinter den sicheren Mauern des Hauses bleiben.
»Die ersten Gäste sind da«, sagte Marijam, als die Glocke am Tor läutete. Khadija erschrak, denn in Gedanken war sie bereits wieder auf dem Weg in das andere, verborgene Leben gewesen.
Vom Dach, wo Bienen die Weinranken umsummten und Tauben gurrten, hatte Nefissa einen weiten Blick über Kairos goldene Kuppeln und Minarette. Man sah von hier aus die ganze Stadt vom Nil bis zur Zitadelle und an klaren Mondnächten in der fernen Wüste die unwirklichen Dreiecke der Pyramiden. An diesem heißen Mittag ruhte die Stadt während der Siesta. Nefissa hatte nur Augen für die Straße vor dem Haus. Jedesmal, wenn eine Kutsche vorbeirollte und die Hufe der Pferde über das Pflaster klapperten, beugte sie sich aufgeregt über das Geländer und dachte: Ist er das? Kommt er diesmal mit dem Pferd? Auch Militärfahrzeuge rollten durch die Paradies-Straße, und dann stockte Nefissa der Atem vor Aufregung. Sie wußte nicht, ob er zu Fuß oder mit dem Wagen kommen würde. Würde er überhaupt kommen? Vieleicht langweilte ihn inzwischen der tägliche stumme Blickwechsel. Bei diesem Gedanken wurde ihr schwer ums Herz. Sie konnte nicht länger warten, und ihr Plan stand fest. Wenn er kommt, dachte sie, werde ich hinuntergehen und mit ihm sprechen.
Als sie ihre Mutter und Marijam Misrachi im Garten sah, trat sie schnell zurück. Die beiden Frauen sollten sie möglichst nicht
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