Das Paradies
hier oben entdecken, denn sie würden ihr Tun mit Sicherheit mißbilligen. Nefissa ließ aber die Straße nicht aus den Augen und betete, daß er kommen möge. An einem solchen schönen Tag würde er bestimmt einen Spaziergang machen! Die großen herrschaftlichen Häuser in der Nachbarschaft standen, ebenfalls vor der Außenwelt geschützt, hinter Tamarinden und Maulbeerbäumen und hohen Mauern. Der Duft von Orangenblüten lag in der Luft, nur das Zwitschern der Vögel und das Plätschern der Brunnen war in der mittäglichen Stille zu hören. Nefissa, die sich nach Liebe sehnte, dachte, es sei durchaus angemessen, daß die Straße, in der sie lebte, nach der Legende mit Sex zu tun hatte.
Es wurde erzählt, daß über mehrere Jahrhunderte hinweg eine Sekte frommer Männer aus Arabien durch die Wüste und das Land zog. Die Männer waren völlig nackt, und überall, wohin sie kamen, wurden sie von den Frauen umworben, denn es hieß, wer mit ihnen sexuell verkehrte oder sie auch nur berühren durfte, der werde von Unfruchtbarkeit geheilt, und Jungfrauen fänden potente Männer. Der Legende nach kam im fünfzehnten Jahrhundert einer dieser Heiligen in einen Palmenhain am Stadtrand von Kairo. Dort machte er in drei Tagen hundert Frauen glücklich, und danach starb er. Augenzeugen berichteten, Allahs Jungfrauen, die der Koran jedem Gläubigen als himmlischen Lohn verhieß, seien vom Himmel herabgekommen und hätten den Heiligen leibhaftig ins Paradies gebracht. Der Palmenhain galt seit dieser Zeit als der Ort der Jungfrauen aus dem Paradies. Als die Briten vierhundert Jahre später Ägypten zu ihrem Protektorat machten, erbauten sie ihr herrschaftliches Wohnviertel in der sogenannten Garden City, wo sich auch der Palmenhain befand. Man wollte die Geschichte nicht in Vergessenheit geraten lassen und nannte deshalb diese Straße die Paradies-Straße. Hier baute Ali Raschid sein rosenfarbenes Herrenhaus inmitten eines üppigen Gartens und hinter einer hohen Mauer zum Schutz seiner Frauen, die hinter den Maschrabijen vom Harem auf die Straße blicken konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Ali richtete das Haus mit eleganten Möbeln und kostbaren Dingen ein. In das polierte Holz über der Eingangstür ließ er den Spruch schnitzten: »O du, der du dieses Haus betrittst, lobe den erwählten Propheten.«
Eine Besucherin kam durch das Tor in den Garten. Jetzt war Khadija mit ihren Gästen beschäftigt, und wenn Nefissas kühner Plan gelingen sollte, mußte ihr Offizier bald kommen.
Khadija empfing ihre Besucherinnen im Pavillon, einem Meisterwerk schmiedeeiserner Handwerkskunst. Der Pavillon wirkte wie ein prächtiger Vogelkäfig mit filigranen ornamentalen Motiven, die das Gitter schmückten, über dem sich eine Kuppel wölbte, die der Kuppel der Mohammed Ali-Moschee glich. In jedem Frühjahr wurde der Pavillon weiß gestrichen, so daß er einladend in der Sonne glänzte. Aber der Pavillon hatte einen bewußten Fehler: Das Muster um den Eingang war asymmetrisch. Muslimische Künstler legten auf solche Unvollkommenheiten großen Wert als Ausdruck ihrer Achtung vor Gott: Nur Gott kann etwas Vollkommenes schaffen.
Einige ihrer Gäste redeten Khadija mit »Sajjida« an, andere nannten sie »Um Ibrahim«, die Mutter von Ibrahim, oder sie gaben ihr den Titel »Scheika«, weise Frau. Heute sprachen viele der Gäste Khadija ihr Beileid zum Verlust der Schwiegertochter aus. Aber wie immer gab es zu essen, viel zu erzählen, und es wurde gelacht. Nicht selten wollten Frauen von Khadija einen Liebestrank oder ein Aphrodisiakum; andere besprachen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung oder ließen sich ein Mittel für ihre Tage geben. Manche der Frauen suchten Hilfe gegen Unfruchtbarkeit oder die Impotenz ihres Mannes. Sie kamen zu Khadija mit ihren Problemen, weil es als unsittlich galt, wenn sich eine Muslimfrau vor einem Arzt auszog. Khadija stand aber auch deshalb in hohem Ansehen, weil sie zu einer Scharifen-Familie gehörte, den direkten Nachkommen des Propheten. Aus diesem Grund kamen manchmal Frauen, um sich von ihr segnen zu lassen, denn sie glaubten an die wundertätige Kraft der Nachkommen Mohammeds.
Ali hatte ihr bei der Hochzeit soviel über ihre Herkunft sagen können, aber mehr nicht. Nach Fathejas Tod stieß ein neuer Traum eine Tür in ihrem Bewußtsein auf. Er entführte sie in eine andere Welt, in ein anderes Leben, vielleicht aber auch in die Vergangenheit. Denn wenn Khadija von dem jungen Mann träumte, der um
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