Das Paradies
schnell an.
Wo wohnt mein Leutnant eigentlich, dachte sie, während sie den Reißverschluß zuzog und nach einem schwarzen Tüllschleier griff. Wohin geht er Tag für Tag? Woher kommt er? Was ist seine Aufgabe in der Armee? Wie heißt er, und was denkt er, wenn er unter meinem Fenster steht und nur meine vom Schleier umrahmten Augen sieht?
Diese Fragen stellte sich Nefissa Tag für Tag. Würde sie je Antworten darauf bekommen?
Aber heute wird er mich nicht nur am Fenster sehen, dachte sie aufgeregt. Heute wartet auf ihn eine Überraschung.
Ein Kindermädchen kam mit dem kleinen Omar an der Hand in Nefissas Schlafzimmer. Er war wütend, obwohl Mund und Kinn mit Eis verschmiert waren. Nefissa nahm ihn in die Arme und drückte ihn liebevoll an sich. Omar hatte einen Wutanfall bekommen, als sie Tahia und Jasmina stillte und ihrem Sohn sagte, er sei jetzt zu groß, um noch an ihrer Brust zu trinken. Der Dreijährige war außer Rand und Band geraten und hatte sich nicht beruhigt, bis Tante Zou Zou und Tante Doreja das Geschrei hörten, ins Zimmer kamen, Omar Eis und Süßigkeiten versprachen und ihn beschwörend daran erinnerten, daß er doch ein braver Junge sei.
Nachdem Omar etwas gnädiger gestimmt mit dem Kindermädchen ihr Zimmer wieder verlassen hatte, hörte Nefissa die Glocke am Tor läuten. Als sie neugierig aus dem Fenster sah, trat Marijam Misrachi in den Garten. Nefissa wußte, sie kam zu Khadijas Teerunde.
Khadija hatte den täglichen Tee schon vor langer Zeit eingeführt. Auf diese Weise konnte sie mit Freundinnen zusammensein, denn ihr Mann hatte ihr früher nicht erlaubt, das Haus zu verlassen. Marijam wohnte im Haus nebenan. Durch Marijam lernte Khadija viele Leute kennen. Jetzt hatte sie zahllose Freundinnen, die keinen Anstoß daran nahmen, daß Khadija nie einen Gegenbesuch machte. Sie hatten sich damit abgefunden, daß sie immer in das Raschid-Haus kommen mußten.
Viele Frauen aus Khadijas Generation hielten an solchen altmodischen Sitten fest. Sie vertraten die Ansicht, der Platz einer Frau sei im Haus. Wenn eine Frau aus einem wichtigen Grund in die Öffentlichkeit mußte, dann ging sie nie ohne Begleitung und immer verschleiert. In den neunundzwanzig Jahren – mit Ausnahme eines Sommeraufenthalts in Alexandria, wohin die ganze Familie im Wagen fuhr – hatte Khadija nie einen Fuß vor das große Tor in der Gartenmauer gesetzt. Sie war nie durch eine der Straßen von Kairo gegangen.
Zur täglichen Teerunde kamen ihre Freundinnen, aber auch Fremde waren willkommen. Frauen, die gehört hatten, daß Khadija heilen konnte und ein großes medizinisches Wissen besaß, suchten bei ihr ebenso Rat wie alle Tanten, Cousinen und Kinder der Raschids. Es kamen aber nur Frauen, Männer waren zum Tee nicht oder nur ausnahmsweise zugelassen.
Heute wollte Nefissa am Tee ihrer Mutter nicht teilnehmen. Sobald sie sicher sein konnte, daß Khadija mit ihren Gästen beschäftigt war, würde sie auf das Dach gehen und dort auf ihren Leutnant warten.
»Was bekümmert dich, Khadija?« fragte Marijam, während sie ihrer Freundin zusah, die Rosmarinblätter pflückte und in ihren Korb legte.
Khadija richtete sich auf und schob den Schleier vom Kopf. Ihr tiefschwarzes Haar glänzte in der Sonne. Sie war zwar in ihrem Garten und sammelte Kräuter, aber sie trug eine kostbare Seidenbluse und einen eleganten Rock, denn sie erwartete Gäste. Aus Achtung vor ihrem verstorbenen Mann und der erst vor kurzem begrabenen Schwiegertochter ging sie ganz in Schwarz.
»Ich mache mir Sorgen um meinen Sohn«, sagte sie schließlich und schnitt ein paar Blüten von einem Strauch, »seit dem Begräbnis ist er so verändert und benimmt sich seltsam.«
»Ibrahim trauert um seine Frau«, erwiderte Marijam, »sie war so jung und so bezaubernd. Er hat sie geliebt. Seit ihrem Tod sind doch erst zwei Wochen vergangen. Ich glaube, er braucht Zeit.«
»Ja«, stimmte ihr Khadija zu, »vermutlich hast du recht.«
Sie befanden sich in Khadijas persönlichem Garten, wo sie Heilkräuter anpflanzte, aus denen sie viele ihrer Heilmittel herstellte, mit denen sie alle möglichen Krankheiten behandelte. Ali Raschids Mutter hatte diesen Garten angelegt, und sie hatte sich dabei an die Angaben in der Bibel über König Salomons Garten gehalten. Es gab Beete mit Kampfer, Aralien und Safran. Hier wuchsen Kalmus und Zimtbäume, Myrrhe und Aloen. Khadija hatte aus eigenem Antrieb auch importierte Kräuter angebaut wie Kassia, Schwarzwurz und
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