Das Paradies
Frau zeigte sich an ihren teuren Kleidern, an dem kultivierten Arabisch, das sie beherrschte, an der Zahl der Dienstboten und an der Bedeutung der beruflichen Stellung ihres Mannes. Aber noch wichtiger war die Form der Anrede. »Sajjida« entsprach der Achtung, die eine verheiratete Frau genoß, »Um«, Mutter, stand höher im Ansehen, und die höchste Achtung zollte man der Mutter eines Sohnes. »Um Ibrahim« war deshalb höflicher als »Um Nefissa«. Eine kinderlose Frau nannte man manchmal »Um el-Ghajib«, die Mutter der Ungeborenen, um sie nicht nur mit ihrem Vornamen anzusprechen, denn das wäre eine Herabsetzung gewesen.
Während jenseits der hohen Gartenmauern das Volk unzufrieden und rebellisch wurde, die Herrschenden sich im Labyrinth der korrupten Politik und internationaler Bankmanipulation verstrickten, kreisten Khadijas Gedanken und die ihrer Besucherinnen im wesentlichen um Ehe- und Kinderprobleme. Khadija hörte immer öfter die Klage, daß ein Mann seine Frau nicht mehr liebe, und sie dachte an ihren eigenen Mann, an Ali Raschid Pascha. Als ihren uneingeschränkten Herrn und Meister – er war ein großer stattlicher Mann gewesen, trug immer einen makellosen Kaftan und den hohen roten Fez, hatte einen Diamantring am linken Ringfinger und in der rechten die Fliegenklatsche aus Elfenbein – hatte sie ihn in den vierundzwanzig Jahren ihrer Ehe immer mit »Pascha« angeredet. In Zusammenhang mit Liebe hatte sie nie an ihn gedacht. Nur Achtung und Bewunderung zählten für Khadija. Liebe war etwas so Unbestimmtes und Flüchtiges wie Rauch.
Eine ärmlich gekleidete Frau näherte sich Khadija. »Verzeih mir meine Kühnheit, verehrte Verwandte«, sagte sie bescheiden, »ich bin nur wie der Teppich unter deinen Füßen.« Sie unterhielten sich eine Weile, bis die Frau schließlich den Mut aufbrachte und leise sagte: »Mein Mann und meine Kinder haben eine schwere Zeit. Aber Gott ist denen wohl gesonnen, die den Armen geben. Ich bin mit dir verwandt, Sajjida.«
»Gott gebe dir Frieden. Wie sind wir verwandt?«
»Ali Pascha, möge Gott ihm die ewige Ruhe schenken, war der Vetter des Onkels meiner Mutter, Saad Raschid.«
»Ein guter Mann«, sagte Khadija.
»Aber mein Mann hat keine Arbeit und sucht eine Stellung. Er war der Leiter einer Parfümfabrik. Er kann lesen und schreiben, Sajjida.«
»Komm in drei Tagen wieder, dann wird mein Sohn eine Stelle für ihn haben.«
Als nächstes erschien eine Frau, die Khadija ebenfalls nicht kannte. Sie war vornehm gekleidet, hatte zu ihren Lederschuhen die passende Handtasche und trug einen europäischen Hut mit einem Schleier vor den Augen.
»Möge Ihr Tag gesegnet sein, Sajjida«, sagte sie, »ich bin Safeja Rageeb.«
»Möge Gott Sie beschützen. Bitte nehmen Sie Platz.«
Khadija reichte der Fremden eine Tasse Tee, die sie dankend annahm. Sie sprachen über das Wetter, über die gute Orangenernte in diesem Jahr, und Khadija bot Safeja Rageeb eine Zigarette an. Die Formen der Höflichkeit mußten gewahrt werden. Eine Besucherin, die gleich zur Sache kam, beleidigte die Gastgeberin. Und Khadija wäre sehr unhöflich gewesen, wenn sie sich sofort nach dem Grund des Besuchs erkundigt hätte.
»Verzeihen Sie, Sajjida«, sagte Safeja Rageeb schließlich sichtlich nervös, »ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich gehört habe, daß Sie eine Scheika sind, besonderes Wissen und große Weisheit besitzen. Man sagt auch, daß Sie eine Heilerin sind und alle Krankheiten behandeln.«
»Alle Krankheiten sind heilbar«, erwiderte Khadija freundlich, »nur nicht die eine Krankheit, an der ein Mensch sterben soll.«
»Aber mir war nicht bekannt, daß Sie einen Trauerfall in der Familie haben. Wie ich sehe, komme ich in einem ungünstigen Augenblick.«
»Das Schicksal und die Not haben eigene Gesetze. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Safeja Rageeb blickte sich zögernd nach den anderen Frauen um. Sie hatte offenbar große Sorgen und schien in Gegenwart so vieler Menschen nicht sprechen zu wollen. Deshalb erhob sich Khadija und sagte: »Gehen wir ein paar Schritte durch den Garten.«
Nefissa ging an der Mauer entlang, blickte vorsichtig nach dem Pavillon und achtete darauf, daß niemand sie sah. In der Mauer gab es zwei Tore. Das Tor für die Fußgänger stand offen, das andere mit den doppelten Flügeln war die Zufahrt für die Wagen. Dorthin eilte Nefissa. Durch einen Spalt im Holz blickte sie nach draußen und hielt den Atem an.
Er war da!
Er war gekommen und blickte
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