Das Paradies
berührte mit der Stirn dreimal den Boden bei den Worten: »Lob sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, der richten wird am Tag des Gerichtes. DIR dienen wir, und DICH bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen DU DEINE Gnade geschenkt hast, die nicht dem Zorn verfallen und nicht irregehen.« Ihre Bewegungen waren anmutig und fließend. Zum Abschluß erhob sie sich und betete:
»La illaha ila allah«,
es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammend ist SEIN Prophet.
Das Gebet tröstete Khadija, denn sie hatte ihre Familie im Glauben an die Macht des Gebets erzogen. Alle Raschid-Frauen mußten fünfmal täglich beten, wenn der Muezzin rief. Und das geschah vor Sonnenaufgang, kurz nach Mittag, nachmittags, kurz nach Sonnenuntergang und mitten in der Nacht. Sie beteten nie genau um zwölf Uhr mittags oder bei Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang, denn die Ungläubigen hatten früher zu diesen Zeiten die Sonne angebetet.
Nach dem Gebet fühlte sich Khadija geistig erneuert und spürte wieder ihre Kraft. Die Zweifel waren gewichen, und sie fürchtete sich nicht mehr vor der Zukunft. Gott wird uns nicht verlassen, sagte sie sich. Sie ging in die Küche und wollte die Köchin anweisen, Ibrahims Lieblingsessen zu kochen.
Plötzlich fühlte sie sich von Gott erleuchtet, und sie sah den Ausweg aus dieser schwierigen Lage:
Ich muß für Ibrahim eine Frau finden und für Nefissa einen Mann.
Die dreizehnjährige Sarah hockte sich neben die Kuh, um sie zu melken. Sie lehnte sich an den großen warmen Leib und drückte das Gesicht gegen das rauhe Fell. Sie fand einen Augenblick lang Frieden. Wie durch ein Wunder vergaß sie in diesem Moment ihre Schmerzen und blauen Flecken. Ihr Vater hatte sie mehrmals verprügelt. Sie vergaß auch ihren Kummer und die schreckliche Heirat, zu der man sie zwang.
Morgen sollte sie Scheich Hamid heiraten.
»Alte Kuh«, flüsterte sie weinend, »was soll ich nur tun?«
Sarah hatte Abdu in den zwei Wochen seit Nazirahs Hochzeit nur einmal gesehen. Als sie ihm von ihrer Verlobung mit Hamid berichtete, war er entsetzt, und dann rief er zornig: »Wir sind miteinander verwandt! Wir sollten heiraten, weil es so richtig ist.« Dann erinnerte er sich an das alte Fellachen-Sprichwort: »Besser die Hölle mit einem Mann aus der Verwandtschaft als das Paradies mit einem Fremden.«
Die Ehe mit Abdu würde keine Hölle sein, das wußte Sarah. Es wäre das Paradies. Sie könnte dann der Trostlosigkeit und der schweren Arbeit im Haus ihres Vaters entfliehen und zu Abdu ziehen. Er wohnte mit seiner Großmutter zusammen, einer freundlichen Frau. Sarah wäre eine pflichtbewußte Ehefrau und würde ihren Mann und die Großmutter gut versorgen, so wie sie es gelernt hatte. Als jüngste Tochter war es Sarahs Pflicht, schon vor dem Morgengrauen aufzustehen, während der Rest der Familie noch schlief. Sie mußte die Kuh melken, den Stall ausmisten und frisches Stroh aufschütten, auf das Dach gehen und Dungfladen für das Kochfeuer machen, dann hinunter zum Fluß laufen und die Wasserkrüge füllen. Zum Schluß fegte sie noch die Hütte und bereitete ein Frühstück aus Milch, Käse und Brot. Zuerst bediente sie ihren Vater und die Brüder, dann frühstückte die Mutter mit ihren Töchtern. Vormittags stand Sarah am Ofen, mahlte Mais und Weizen, knetete den Teig und buk das Fladenbrot. Anschließend ging sie mit der schmutzigen Wäsche hinunter zum Fluß. Sarah hatte auch dafür zu sorgen, daß das Abendessen rechtzeitig fertig war, wenn ihre Brüder und der Vater von den Feldern zurückkamen. Die Mutter und ihre Töchter aßen dann das, was die Männer übrigließen. Sarah konnte also einen Haushalt führen und eine Familie versorgen. Sie würde Abdu eine gute Frau sein. Aber den Gedanken, dem alten Scheich Hamid auf dieselbe Weise zu dienen, konnte sie nicht ertragen.
»Du wirst in seinem Laden arbeiten«, hatte ihr Umma mit leuchtenden Augen gesagt, »du wirst mit den Kunden sprechen, Geld entgegennehmen und das Wechselgeld zurückgeben. Du wirst eine sehr große Bedeutung haben, Sarah!« Aber Sarah begriff sehr wohl, daß die Mutter versuchte, ihr nur die guten Seiten dieser Ehe vor Augen zu führen. Sie wußte, daß Umma den Scheich auch nicht mochte. Gewiß, es brachte großes Ansehen ein, in dem Laden zu stehen, und Sarah hätte das auch gefallen. Aber der Scheich hatte keinen einzigen Dienstboten. Sarah würde deshalb nicht nur von morgens bis abends
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