Das Paradies
ebenfalls ihren Krug auf den Boden und packte Sarah bei den Schultern. »Was redest du da? Sarah, was hast du getan?«
Aber sie wußte es bereits. Das hatte sie gefürchtet, seit die monatlichen Blutungen bei ihrer Tochter einsetzten. Umma hatte beobachtet, wie Sarah und Abdu sich mit großen Augen wie zwei Kälber ansahen. Sie konnte nachts nicht mehr schlafen aus Angst, ihre jüngste Tochter bis zur Hochzeit nicht beschützen zu können. Jetzt hatte sich der entsetzliche Alptraum verwirklicht.
»War es Abdu?« fragte sie ruhig. »Hast du mit ihm geschlafen? Hat er dich entjungfert?«
Sarah nickte stumm.
Umma schloß die Augen und murmelte:
»Inschallah«,
es ist Gottes Wille. Sie nahm ihre Tochter in die Arme und sprach aus dem Koran: »Der Herr erschafft, läßt gedeihen und ER führt. Alles Kleine und Große ist bereits in Gottes Büchern aufgezeichnet. Es ist SEIN Wille.« Mit Überwindung fügte sie hinzu: » ER bestimmt, wer sich verirren soll, und ER bewahrt den vor Unheil, den ER dazu ausersehen hat.«
Sie trocknete Sarahs Tränen und sagte: »Du kannst hier nicht länger bleiben, mein Herzenskind. Du mußt das Dorf verlassen. Dein Vater und deine Onkel werden dich umbringen, wenn sie erfahren, was du getan hast. Scheich Hamid wird morgen bei der Prüfung deiner Jungfernschaft kein Blut am Taschentuch haben. Dann werden alle wissen, daß du uns entehrt hast. Sarah, du mußt dein Leben retten. Gott ist gnädig. ER wird für dich sorgen.«
Sarah unterdrückte die Tränen und sah ihre Mutter mit großen, rotgeweinten Augen an. Von dieser Frau hatte sie alles gelernt, was sie wußte, in ihrem Schutz war sie herangewachsen, und nun sollte sie ihre Mutter nie wiedersehen.
»Warte hier«, sagte Umma, »geh nicht mit nach Hause. Ich werde zurückkommen, wenn dein Vater gegessen hat. Ich habe einen Armreif und einen Ring, die Hochzeitsgeschenke deines Vaters. Tante Alija hat mir einen seidenen Schleier vererbt. Das kannst du alles verkaufen, Sarah. Ich werde dir auch etwas zu essen bringen. Keiner darf dich sehen. Sag niemandem, wohin du gehst.« Sie seufzte und sagte dann sehr ernst: »Hör mir gut zu, du darfst nie, nie ins Dorf zurückkommen. Du darfst nie wieder nach Al Tafla kommen.«
Sarah drehte sich um und blickte auf das langsam fließende Wasser. Ein paar Meilen flußabwärts führte eine Brücke über den Nil, und dann mußte sie einfach der großen Straße folgen, bis sie Kairo erreichte. Abdu war diesen Weg gegangen. Sie würde ihm folgen.
Nefissa stieg aus dem Wagen und zog schnell den Schleier fest über die untere Gesichtshälfte. Dann mischte sie sich unter die anderen Fußgänger, die durch Bâb Zuwêla, eines der alten Stadttore, drängten. Da sie von Kopf bis Fuß in eine schwarze Melaja gehüllt war, ein großes rechteckiges glattes Tuch, das die Frauen so geschickt um sich legten, daß man noch nicht einmal ihre Hände sah, fiel sie unter den Fellachen nicht auf, die den alten Teil von Kairo bevölkerten. Und als sie an den Läden der Zeltmacher vorbeieilte und durch das Tor ging, wo Jahrhunderte lang blutige Hinrichtungen stattfanden, kam sie wahrhaft in eine andere, eine ältere Zeit.
In diesem mittelalterlichen Viertel führten Männer in Galabijas Kamele und Esel an den Halftern, sah man nur verschleierte Frauen. In den engen Gassen des alten Kairo, wo es keine modischen und teuren Geschäfte gab und die Frauen keine eleganten europäischen Kleider trugen, war die Melaja ein sittsamer Mantel. Sie sollte die weiblichen Formen verhüllen und auf diese Weise der Moral dienen, aber die jüngeren Frauen nutzten sie oft ganz anders. Das Tuch lag über dem Kopf, den Schultern und reichte bis zu den Fußknöcheln. Aber wenn sie die Melaja straff über Hüften und Gesäß zogen, war das eher aufreizend und enthüllend. Der Stoff war im allgemeinen leicht und glatt – Nylon oder hauchdünne Baumwolle – und mußte ständig neu drapiert und zurechtgezogen werden. Was Wunder, wenn nicht wenige Frauen diese Kunst perfekt beherrschten und raffiniert die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zogen.
Nefissa blieb bei den Marktständen nicht stehen, wo es vom Gemüse bis zu Gebetsteppichen alles gab. Sie warf auch keinen Blick in die dunklen Hauseingänge, wo in kleinen Werkstätten die Männer saßen und ihren jahrhundertealten Handwerken nachgingen. Nefissa ging geradewegs zu einer einfachen Tür in einer unauffälligen Mauer. Sie klopfte, die Tür ging auf, und sie trat ein.
Sie gab
Weitere Kostenlose Bücher