Das Paradies
ihm eines Tages ins Paradies folgen werde.
Ibrahim legte dem Toten die Hand auf die Schulter und murmelte: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist SEIN Prophet.«
Dann erinnerte er sich an den Traum vor vielen Wochen, bevor er in der Zelle aufgewacht war. Er hatte von Sarah und Zacharias geträumt, und plötzlich konnte er den Gedanken klar und deutlich fassen, der sich ihm den ganzen Tag über entzogen hatte. Plötzlich verstand er alles. Das Gefängnis hier war die Strafe Gottes, weil er Zacharias als seinen Sohn ausgegeben hatte. Seine Verhaftung war kein Irrtum. Er
sollte
hier sein. Er
mußte
hier sein. Mit dieser Einsicht überkam ihn ein seltsamer Friede.
Am nächsten Morgen holten ihn die Wärter. Ibrahims Verhör konnte beginnen.
Der Gebetsruf ertönte. Zuerst begann der Muezzin vom Minarett der Al Azhar Moschee zu singen, dann übernahm ein anderer von der nächsten Moschee das Gebet, dann noch einer und noch einer. Ihre Stimmen verschmolzen über den Kuppeln und Dächern der Stadt. Der Ruf zum Gebet wurde am winterlichen Morgenhimmel wie Perlen zu einer Kette aufgezogen.
Alle, die sich im Haus der Raschids versammelt hatten, besonders die Männer, fanden es nicht befremdlich, daß eine Frau ihre Vorbeterin gewesen war. Sie war nicht nur eine Frau, sondern Khadija, Alis Witwe, und seit vier Monaten, seit der mysteriösen Verhaftung ihres Sohnes, die Führerin der Sippe. Khadija hatte sie in das Haus in der Paradies-Straße gerufen und hielt sie dort in dieser Familienkrise zusammen. Der große Salon war in eine Befehlszentrale verwandelt worden. Hier erhielt jedes Familienmitglied seine Aufgabe zugeteilt – Telefonanrufe entgegennehmen, Anrufe erledigen, Bittgesuche drucken, die verteilt wurden, Artikel und Meldungen für die Zeitungen vorbereiten, Briefe an jemanden schreiben, der in der Sache Ibrahim Raschid helfen konnte. Khadija stand bei all dem im Mittelpunkt. Sie organisierte und gab Anweisungen.
»Ich habe gerade erfahren, daß der Vater des Herausgebers von
Al Ahram
ein guter Freund von Großvater Ali war. Khalil, geh in die Redaktion und berichte von unserem Unglück. Wenn sein Vater noch am Leben ist, wird er vielleicht helfen.«
Die männlichen Familienmitglieder verließen das Haus, um ihre Aufgaben zu erledigen, und erstatteten ihr anschließend Bericht, während die Frauen kochten und die vielen Bewohner des Hauses versorgten. Alle Schlafzimmer waren belegt, denn sogar aus dem fernen Luxor und Aswan waren Raschids gekommen, um an Ibrahims Entlassung aus dem Gefängnis mitzuwirken.
Als die ersten Strahlen des Sonnenlichts auf die Berge im Osten fielen, läutete bereits das Telefon, und das schnelle Klappern einer Schreibmaschine war zu hören. Zou Zous Enkel, ein gutaussehender Mann, der im Handelshaus arbeitete, kam herein und trank eine Tasse Tee. Er setzte sich zu Khadija.
»Die Zeiten haben sich geändert, Um Ibrahim«, sagte er betrübt, »der Name eines Mannes bedeutet nichts mehr. Sein Ansehen und das Ansehen seines Vaters sind wertlos. Die Beamten interessiert nur noch Bakschisch. Kleine Angestellte, die früher nicht an unserem Tisch gesessen hätten, tragen jetzt Uniformen und stolzieren wie Pfauen herum. Sie fordern riesige Summen für ihre Hilfe.«
Khadija hörte geduldig zu und sah in seinen Augen Verwirrung, Enttäuschung und Verlorenheit, wie sie sich auch in den Augen der anderen Onkel und Neffen spiegelten. Die sozialen Klassen zerfielen; Aristokraten wie die Raschids trugen nicht mehr den Fez, früher das stolze Symbol ihrer privilegierten Stellung. Niemand kannte mehr seinen Platz. Man hatte der Herrenschicht den Titel »Pascha« genommen. Zeitungsverkäufer und Taxifahrer waren jetzt unverschämt zu Männern, vor denen sie sich einst verneigt hatten. Die riesigen Plantagen, die seit vielen Generationen den reichen Grundbesitzern gehörten, wurden beschlagnahmt und unter den Bauern aufgeteilt; große Institutionen und sogar die Banken wurden verstaatlicht. Das Militär beherrschte das Land, und niemand konnte ihm Einhalt gebieten, auch die Engländer nicht, die erkannten, daß sie ihre Präsenz in Ägypten nicht mehr lange aufrechterhalten konnten. In jedem Kaffeehaus von Kairo sprach man über den Sozialismus, und eine fanatische Welle der Idee von der Gleichheit aller hatte Ägypten erfaßt.
Khadija verstand das alles nicht und machte auch keinen Hehl daraus. Wenn diese Veränderungen Gottes Wille waren, dann sollte es so sein. Aber wo war
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