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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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die Gefolterten medizinisch richtig zu versorgen.
    Ihn beschäftigten so viele Fragen, auf die niemand ihm eine Antwort gab. War Farouk wieder in Ägypten? War die Revolution noch immer erfolgreich? Glaubte seine Familie, er sei tot? Glaubte Alice, sie sei eine Witwe? War sie mit Edward nach England zurückgekehrt? Das Gespräch mit ihr hatte nie stattgefunden. Er hatte ohnehin befürchtet, daß sie sich von ihm trennen wollte …
    Ibrahim begann zu weinen. Keiner der Männer beachtete ihn. Sie alle brachen früher oder später zusammen.
    Er hätte es nie für möglich gehalten, daß ihm der zerlumpte Mahzouz fehlen würde.
     
    Der letzte Häftling, der in die Zelle gebracht wurde, sagte, man habe vor wenigen Tagen den Geburtstag des Propheten gefeiert. Das bedeutete, Ibrahim saß seit genau vier Monaten im Gefängnis. In dieser Zeit hatte ihn niemand besucht; niemand hatte sich nach ihm erkundigt, niemand hatte ihm etwas zu essen, Kleidung oder Zigaretten gebracht. Er hatte kein einziges Mal die Zelle verlassen. Man hatte ihn noch nicht einmal verhört.
    Er war wie gelähmt. Sein Leben beschränkte sich auf den Platz an der Mauer, wo »Allah« in den Stein geritzt worden war. Er wich nicht von dieser Stelle und beanspruchte darüber hinaus nur etwas Stroh zum Schlafen. Das war seine Welt, das Territorium eines Vergessenen. Er achtete nicht länger darauf, wie er abmagerte oder daß ihm der Bart bis auf die Brust reichte. Auch die Träume in den langen Nächten, die ebenso absurd waren wie seine noch längeren Tage, ängstigten ihn nicht mehr. Er sehnte sich auch nicht mehr nach seinem seidenen Morgenmantel oder nach der Wasserpfeife. Er wollte nicht auf Hassans Hausboot sein und in netter und amüsanter Gesellschaft Karten spielen. Er hatte sich damit abgefunden, daß es weder Zigaretten noch Kaffee gab. Ibrahim wollte nur noch den Himmel sehen, das Gras am Nilufer unter den Füßen spüren. Er wollte Amira, Jasmina und Zacharias lachen hören. Sein Leben bestand nur noch aus dem eintönigen Kreislauf von Aufwachen, der Frage, würde ihm dieser Tag die Freiheit bringen, dem Kampf um Brot und Bohnen, der demütigenden Verrichtung der körperlichen Bedürfnisse, dem Warten auf das Klirren der Schlüssel im Gang und dem Warten auf den Einbruch der Nacht, bis die Müdigkeit ihn übermannte und er irgendwann einschlief. Er betete schon lange nicht mehr fünfmal am Tag.
    Eines Tages brachten die Wärter einen jungen Gefangenen in die Zelle. Ibrahim kämpfte mit einem Gedanken. Beim Erwachen hatte er die Vorstellung, eine wichtige Erkenntnis werde ihm zuteil. Aber sie entzog sich ihm. Den ganzen Tag über versuchte er, sie in sein Bewußtsein zu holen. Er wußte, das unzureichende Essen aus sauren Bohnen und Brot hatte ihn ausgezehrt. Die Unterernährung und der Wasserentzug raubten ihm den klaren Verstand, den er zu dieser Erkenntnis dringend brauchte. Als man den jungen Mann in die Zelle trug, der krank und gefoltert worden war, ahnte Ibrahim nicht, daß ihm eine Offenbarung bevorstand.
    Der junge Mann blieb so auf dem Boden liegen, wie die Wärter ihn hatten fallen lassen. Die anderen Häftlinge kümmerten sich nicht um ihn. Ibrahim ging hinüber und kniete an seiner Seite nieder. Ihn trieb das Verlangen nach einer Nachricht über die Welt da draußen und weniger die Sorge um den jungen Mann.
    Sie redeten miteinander. Der junge Mann war zu schwach, um sich zu setzen. Ibrahim erfuhr, daß er nicht erst heute verhaftet worden war, sondern vor beinahe einem Jahr während der Übergriffe am Schwarzen Samstag. Seit dieser Zeit, so berichtete der junge Mann stockend und mit schwacher Stimme, habe man ihn von einer Zelle in die andere gebracht und mitunter auch gefoltert. Er war Mitglied der Muslim-Bruderschaft und wußte, daß er bald sterben würde. Aber er sagte: »Mach dir um mich keine Sorgen, mein Freund. Ich gehe zu Gott.«
    Ibrahim überlegte, wie es wohl sein mochte, für etwas zu sterben, woran man glaubte.
    Die grünen Augen des jungen Mannes richteten sich auf Ibrahim. »Hast du einen Sohn?«
    »Ja«, flüsterte Ibrahim und dachte an Zacharias, »er ist ein guter Junge.«
    Der Mann schloß die Augen. »Wie schön. Es ist gut, einen Sohn zu haben. Gott möge mir verzeihen, aber ich bedaure nur, daß ich diese Erde verlasse, ohne einen Sohn zu haben, der meinen Platz übernehmen kann.« Als Abdu starb, sah er vor seinem inneren Auge das Dorf seiner Kindheit und Sarah, die er geliebt hatte. Er fragte sich, ob sie

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