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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Khadija Raschid!
    Und sie machte sich Vorwürfe. Bestimmt blickte Ali, ihr Mann, stirnrunzelnd aus dem Paradies auf sie herab. Khadija war mehrmals in Panik geraten, wenn sie Kreuzungen erreicht hatte, wo die roten und grünen Lichter der Ampeln aufleuchteten, wo Polizisten standen und die Wagen in eine Richtung leiteten oder sie anhalten ließen. Sie hatte zitternd den Gehweg verlassen und wäre beinahe überfahren worden. Händler priesen laut und lärmend Gemüse, Hühner und Gewürze an. Sie hielten ihr die Waren dicht vor das Gesicht. Khadija kam an Männern vorüber, die an den Straßenecken standen und stritten oder aufgeregt miteinander feilschten oder über einen Witz lachten. Sie hatte auch Frauen gesehen, die Arm in Arm an den Geschäften vorbeischlenderten und lachend auf die Auslagen in den Schaufenstern deuteten. Khadija war fassungslos. Ihr Sohn saß im Gefängnis, war vielleicht sogar tot, und die Stadt lebte weiter, als sei nichts geschehen.
    Und jetzt hatte sie sich verirrt.
    Sie glaubte, durch ihre Hilflosigkeit an der Straßenecke aufzufallen. Alle Augen schienen sich auf sie zu richten. Deshalb lief sie, ohne nachzudenken, weiter. Aber bald stellte sie fest, daß sie schon einmal in dieser Straße gewesen war. Ihr Herz klopfte schnell und immer schneller.
    Sie lief im Kreis!
    Plötzlich entdeckte sie zwischen zwei Gebäuden etwas, das ihr Hoffnung machte. Sie sah den stumpf metallisch glänzenden Nil.
    Khadija blieb auf dem Gehweg. Sie vermied es, noch einmal eine dieser gefährlichen Straßenkreuzungen zu überqueren, und erreichte schließlich eine Brücke. Sie folgte dem Strom der Fußgänger – Männer aus den Dörfern in Galabijas zogen hoch beladene Gemüsekarren, Frauen in langen schwarzen Gewändern hatten ihre Bündel auf dem Kopf, modern gekleidete Studenten trugen Bücher unter den Armen. Aber Khadijas Aufmerksamkeit galt nicht den Menschen; sie blickte wie gebannt auf den Fluß.
    Sie hatte den Nil bisher nur vom Dach gesehen – ein seidenes Band wechselnder Farben. Der Fluß schien weit weg zu sein und wirkte irgendwie künstlich. Aber jetzt, als sie auf dem Brückenbogen stehenblieb und auf das Wasser hinunterblickte, überwältigten sie Gefühle und Empfindungen. Eine Erinnerung stellte sich klar und deutlich ein: Sie hatte den Fluß schon einmal gesehen! Aber wo? Als kleines Mädchen – als das Mädchen, das in der Wüste geraubt worden war …
    Der Fluß hypnotisierte sie. Die fruchtbaren Gerüche erinnerten sie an den endlosen Strom von Geburten. An der Oberfläche schien das Wasser langsam und gemächlich zu fließen. Aber Khadija hatte das Gefühl, die schnellere und gefährlichere Strömung in der Tiefe wahrzunehmen. Noch eine Erinnerung stellte sich ein. Sie war vierzehn und schwanger. Ihr erstes Kind würde ein Sohn sein und sie würde ihm den Namen Ibrahim geben. Ihr Mann in seiner klugen Art sagte zu ihr: »Der Nil ist einzigartig, und er ist ein weiblicher Fluß. Er fließt von Süden nach Norden.«
    Khadija hatte gefragt: »Ist der Fluß eine Frau?«
    »Der Nil ist die Mutter Ägyptens, die Mutter aller Flüsse. Ohne unsere Mutter würde es hier kein Leben geben.«
    »Aber Gott schenkt uns das Leben.«
    »Gott gibt uns den Nil, und sie ernährt uns.«
    Khadija blickte auf den breiten, mächtigen Fluß, in dem sich der bleigraue Himmel ebenso spiegelte wie die dreieckigen weißen Segel der Feluken, die langsam vorüberglitten. Sie hörte Ali sagen: »Der Nil fließt von Süden nach Norden.«
    Khadija blickte auf die Strömung, hob den Kopf und blickte geradeaus, bis der Fluß um eine Biegung verschwand. Sie dachte: Dort ist Norden! Dann wurde ihr klar, daß zu ihrer Linken Westen und zu ihrer Rechten Osten sein mußte. Gott hatte ihr ein Zeichen gegeben!
    Khadija fürchtete sich nicht mehr. Sie ging zurück und bog an der ersten Hauptstraße links ab. Ohne den Nil aus den Augen zu lassen, ging sie weiter. Als sie den Platz vor der englischen Kaserne erreichte, wußte sie wieder, wo sie sich befand. Sie dachte an den Nil und ging nach Osten. Energisch suchte sie sich ihren Weg inmitten der vielen Menschen, ohne auf die eleganten Schaufenster zu achten. Mit ihrer schwarzen Melaja mischte sie sich unter Frauen in kurzen Kleidern und hohen Absätzen. Schließlich erreichte sie die andere Verkehrsinsel. Zwischen den hohen Gebäuden entdeckte sie ein Minarett der Al Azhar Moschee, die ihr Ali vor vielen Jahren vom Dach ihres Hauses gezeigt hatte.
    Endlich stand sie vor

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