Das Parsifal-Mosaik
abgewendet. Der Riese war doch nur ein Sterblicher. Und jetzt sein Feind. »Mon Dieu, Sie sehen ja sterbenskrank aus!« raunte ihm der hochgewachsene Franzose in dem Mantel mit Samtkragen und den glänzenden schwarzen Schuhen zu, der zwei Meter rechts von Havelock vor dem Fenster stand. »Was ist denn mit Ihnen passiert? ... Nein, sagen Sie es mir nicht! Nicht hier.« »Wo?«
»Am Quai Bernard, hinter der Universität, ist ein Kinderspielplatz«, fuhr Gravet fort und betrachtete eitel seine schlanke Figur im Schaufenster. »Wenn die Bänke besetzt sind, dann suchen Sie sich einen Platz am Zaun, ich komme zu Ihnen. Kaufen Sie unterwegs eine Tüte mit Süßigkeiten und versuchen Sie, wie ein adretter Vater auszusehen, nicht wie ein Sittenstrolch.«
»Danke für das Vertrauen. Haben Sie mir etwas mitgebracht?« »Sie wissen, daß Sie tief in meiner Schuld stehen. Ihr armseliges Aussehen läßt nicht gerade vermuten, daß Sie mir jemals ein Honorar zahlen könnten.« »Haben Sie etwas über sie erfahren?« »Ich bin noch dabei.« »Was wollen Sie mir dann erzählen?«
»Mehr am Quai Bernard«, sagte Gravet, zog sich die scharlachrote Krawatte zurecht und schob seinen grauen Homburg etwas zur Seite. Dann drehte er sich um und schlenderte davon. Von der Seine wehte ein kühler Wind über den Spielplatz, aber das hinderte die Kindermädchen und jungen Mütter nicht daran, ihren lärmenden Nachwuchs an der frischen Luft toben zu lassen. Zum Glück für Michael war an der hinteren Wand eine Bank frei, etwas abseits von den Spielgeräten. Er setzte sich und holte geistesabwesend bunte Pfefferminzbonbons aus einer weißen Tüte, wobei er ein besonders lebhaftes Kind im Auge hatte, das sein Dreirad traktierte. Er hoffte, daß es so aussah, der Junge würde zu ihm gehören. Dabei ging er davon aus, daß der wirkliche Begleiter des Kleinen sich so weit wie möglich von ihm fernhalten würde. Der schlanke, elegante Gravet schlenderte durch den Eingang und lief außen am Spielplatz entlang und nickte allen, die ihm über den Weg kamen, gütig zu, ein älterer Herr voll freundlicher Gefühle für die Jugend. Wirklich eine schauspielerische Leistung, dachte Havelock, der wußte, daß Gravet lärmende Kinder eigentlich haßte. Schließlich erreichte er die Bank und setzte sich neben Michael, wobei er eine Zeitung vor sich entfaltete.
»Sollten Sie nicht besser einen Arzt aufsuchen?« fragte der Franzose, ohne den Blick von der Zeitung zu wenden.
»Das habe ich bereits vor einigen Stunden getan«, erwiderte Michael, der sich beim Sprechen die Tüte mit den Bonbons vor den Mund hielt. »Mir fehlt nichts, ich bin nur müde.« »Das erleichtert mich. Ich würde Ihnen aber dennoch empfehlen, sich zu säubern und zu rasieren. Wir beide in diesem Park hier könnten leicht die Polizei auf den Pla n rufen.« »Mir ist nicht nach Witzen zumute, Gravet. Was haben Sie erfahren?«
Der Kritiker faltete die Zeitung zusammen und schnippte mit den Fingern. »Ich bin auf einen Widerspruch gestoßen, wenn meine Quellen verläßlich sind, und ich habe allen Anlaß zu der Annahme, daß sie das sind. Auf einen unglaublichen Widerspruch sogar.« »Wieso?«
»Das KGB hat keinerlei Interesse an Ihnen. Ich könnte Sie denen als bereitwilligen, geschwätzigen Überläufer präsentieren und Sie in das Pariser Hauptquartier des KGB bringen - eine Importfirma am Boulevard Beaumarchais, aber das wissen Sie ja wahrscheinlich - und würde keinen Sou dafür bekommen.«
»Warum ist das ein Widerspruch? Dasselbe habe ich vor ein paar Wochen auf dem Pont Royal zu Ihnen gesagt.« »Das ist auch nicht der Widerspruch.« »Was denn?«
»Jemand anderer sucht Sie. Er ist gestern nacht mit dem Flugzeug hier angekommen, weil er glaubt, daß Sie entweder in Paris oder auf dem Wege hierher sind. Es heißt, er würde ein Vermögen für Ihre Leiche geben. Er ist kein KGB-Mann im üblichen Sinne, aber damit wir uns richtig verstehen, ein Sowjet ist er.«
»Nicht ... im üblichen Sinne?« fragte Havelock verwirrt und spürte, wie eine bedrohliche Erinnerung in ihm wach wurde. »Ich habe von ihm über eine Quelle im Militaire Etranger erfahren. Er gehört einer besonderen Abteilung der sowjetischen Abwehr an, einem Elitecorps der ...«
»Voennaja Kontra Rozvedka«, unterbrach ihn Michael. »Wenn die Abkürzung dafür VKR lautet, ist das richtig.« »Das stimmt.« »Er will Sie haben. Er zahlt viel Geld.«
»Wahnsinnige.«
»Mikhail, ich sollte Ihnen das sagen. Er ist mit
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