Das Parsifal-Mosaik
nicht länger bleiben konnte. Da fuhr der Mann am Fenster mit dem Kopf herum. Eine Störung, irgend etwas riß ihn aus seiner Konzentration, die der Straße galt; er ging ins Zimmer zurück, Gravets Anruf. Jetzt! Michael hob seine Tasche auf, legte sie in den Drahtkorb und ging schnell auf die Treppe zu, die zum Eingang des Hotels führte. Bei jedem Schritt richtete er sich mehr auf. Während er die Treppen hinaufstieg, hielt er sich die Hand ans Gesicht und griff sich an den Rand der Strickmütze. Höchstens zweieinhalb Meter über ihm war das Fenster, in dem Sekunden zuvor der sowjetische VKR-Agent gestanden hatte. Gravets Anruf würde kurz sein und in keiner Weise gekünstelt wirken. Der Franzose würde behaupten, Havelock am Montparnasse gesehen zu haben. Wenn es tatsächlich die Zielperson war, dann war er jetzt zur Metro unterwegs; der Jäger würde ihm folgen und später wieder anrufen.
In der dunklen, muffig riechenden Vorhalle mit den zersprungenen Bodenfliesen und den Spinnweben, die alle vier Ecken der Decke zierten, nahm Havelock die Mütze ab und drückte die Revers seiner schmutzigen Jacke flach. In einem Hotel wie diesem, das Pennern und Huren als Absteige galt, war die Aufmachung gleichgültig, hier interessierte nur das Geld, das jeder im voraus zu zahlen hatte. Der fettleibige Portier hinter dem Marmortresen döste in einem Sessel und hatte seine weichen, wulstigen Hände über dem vorstehenden Bauch gefaltet, und sein Doppelkinn füllte den offenen Kragen seines schmutzigen Hemds. Eine weitere Person hielt sich in der Halle auf. Ein hagerer alter Mann saß auf einer Bank; unter dem ungepflegten grauen Schnurrbart hing ihm eine Zigarette aus dem Mund. Er hatte den Kopf nach vorne gebeugt und starrte aus zusammengekniffenen Augen auf eine Zeitung, die er in der Hand hielt. Er blickte nicht auf. Havelock ließ seine Mütze auf den Boden fallen, trat sie zur Seite, so daß sie zur Wand rutschte, und ging nach links, wo eine schmale Treppe nach oben führte. Die Stufen waren abgewetzt, und das Geländer war an einigen Stellen zerbrochen. Er ärgerte sich über das Knarren der Dielen und stellte erleichtert fest, daß die Treppe nur kurz war. Er erreichte den ersten Stock und stand reglos da, lauschte. Bis auf das ferne Dröhnen des Straßenverkehrs war kein Laut zu hören. Er blickte auf die zwei Meter entfernte Tür von Zimmer 23. Gravets Anruf war vorbei, der VKR-Beamte hatte wieder seinen Platz am Fenster eingenommen. Höchstens fünfundvierzig Sekunden waren verstrichen. Michael knöpfte sein Jackett auf, griff hinein und zog die Magnum heraus. Der perforierte Schalldämpfer fing sich kurz im Leder; er schob mit dem Daumen den Sicherheitsflügel zurück und ging durch den dunklen, schmalen Gang auf die Tür zu.
Er zwang sich zu äußerster Konzentration.
Plötzlich ein Knarren der Dielen hinter ihm! Er fuhr herum, als die erste Tür zu seiner Rechten jenseits der Treppe langsam aufgezogen wurde; sie war nicht verschlossen gewesen, und so fehlte auch das Geräusch, das ein sich drehender Türknopf erzeugt. Ein kleiner, untersetzter Mann trat heraus, Schultern und Rücken am Türrahmen, eine Waffe in der Hand. Er hob sie, den Finger am Abzug, sein Gesicht zeigte keine Gefühlsregung. Michael feuerte sofort. Der Mann wurde gegen den Türstock geschleudert. Michaels Blick suchte die Waffe, die der andere immer noch in der Hand hielt. Er hatte recht gehabt; die Waffe war eine Graz-Burja, die wirksamste Schnellfeuerpistole, die in Rußland produziert wurde. Der VKR-Mann war nicht allein. Und wo ein zweiter war ...
Der Türknopf drehte sich; es war die Tür unmittelbar gegenüber von Zimmer 23. Havelock warf sich gegen die Wand rechts vom Eingang. Als sich die Tür öffnete, wirbelte Michael herum, die Magnum in Brusthöhe. Das Gesicht unter ihm! Die geduckte Haltung ... die Waffe! Havelock schmetterte den Lauf seiner Magnum gegen den Kopf des Mannes. Der Russe fiel in das Zimmer zurück. Michael schloß die Tür und wartete. In der Halle war Stille, nur der Verkehrslärm war weiterhin zu vernehmen. Er trat von der Tür zurück, die Magnum darauf gerichtet, und suchte den Boden nach der Waffe des Russen ab. Sie lag neben der bewußtlosen Gestalt am Boden. Er kniete nieder und hob sie auf. Es war ebenfalls eine Graz-Burja. Er schob sie sich in die Jackentasche, beugte sich vor und zog den Russen zu sich hin. Der Mann war schlaff, und es würde noch Stunden dauern, bis er sein Bewußtsein wiedererlangen
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