Das peinlichste Jahr meines Lebens
geschweige denn nackt. [16]
Dad hüstelte. »Also, mein Junge. Weißt du, deine Mutter wollte … na ja, sie hatte die Idee … also, die Sache ist die …«
Mum sagte spöttisch: »Ach, hör auf, Roy. Gib nicht mir an allem die Schuld. Hör mal, Michael, dein Vater und ich, wir sind Naturisten.«
Mein Atem war inzwischen ganz flach. »Naturisten? Du meinst, ihr lauft so durch die Landschaft? Das ist ja ekelhaft. Was ist mit den Schafen? Die erschrecken sich doch zu Tode.«
»Nein, Michael«, sagte Mum stöhnend, »Naturisten, Nudisten. Leute, die so sein wollen, wie die Natur sie geschaffen hat. Wir wollen bloß frei sein, Michael. Frei von den Handschellen der Gesellschaft. Frei vom Gefängnis unserer Kleidung. Frei wie die Vögel im Himmel und die Delfine im Meer. Draußen an der frischen Luft, die Sonne auf unserer Haut, den Wind in unseren …«
»Okay, okay«, sagte ich, inzwischen um Atem ringend. »Und was habt ihr dann im Wohnzimmer gemacht? Wie ihr wisst, muss ich noch auf diesem Stuhl sitzen.«
Mum blickte Dad an, der von einem Fussel auf dem Ärmel seines Bademantels fasziniert zu sein schien. »Wir … ähm, wir üben.«
»Üben?«, fragte ich, und meine Brust schnürte sich immer enger zusammen. »Was denn?«
Dad zuckte zusammen. »Nach draußen zu gehen.«
»Nach draußen?« stieß ich hervor und schnappte nach Luft. Ich nahm mein Inhaliergerät und atmete zweimal tief ein. »Sagt … mir … dass das … ein Scherz ist.«
»Nein, Michael«, sagte Mum. »Das ist für deinen Vater und mich wirklich wichtig.«
»Na ja«, sagte Dad, »hauptsächlich für deine Mutter.«
Mum warf ihm einen feindseligen Blick zu. »Nicht schon wieder, Roy. Du schiebst immer alles auf mich. Mehr als acht Jahre Vorbereitung, und du kannst im Haus immer noch nicht die Socken ausziehen.«
Jetzt verschlug es mir tatsächlich den Atem. »Acht … Jahre?! Ihr … lauft … seit acht Jahren … nackt … in meinem Haus herum? Ekel … haft.« Plötzlich wurde mir etwas klar. »Moment mal … deshalb … siehst du mir … samstags … nie beim Training zu. Das … ist … eure … igitt … eure nackige Zeit!«
Die letzten Worte spuckte ich aus wie verfaulte Mandarinenstücke.
»Schätzchen, das ist nicht fair«, sagte Mum.
»Fair?«, presste ich hervor. »Fair? Das Bild eurer nackten Körper … ist in meine Netzhaut eingebrannt … Ich hab Angst … zu blinzeln … weil ich euch dann wieder vor mir sehen könnte. Ich wünschte, ich könnte … mir die Augen ausreißen.«
Dieser letzte Satz war alles, was ich fertigbrachte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde eine kalte Hand meine Lunge packen und die Luft herauspressen. Ich wankte durchs Zimmer, stürzte zu Boden und fasste mir an die Kehle.
»Michael, ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Mum.
»Wo ist deine Tüte, mein Junge?«, fragte Dad.
Ich fuchtelte mit den Händen in Richtung Nachttisch, Schweiß tropfte mir von der Stirn. Mein Atem klang, als würde ein Stück Holz durchgesägt.
Mum schnappte sich die braune Papiertüte vom Nachttisch, die ich für Asthmaanfälle dort aufbewahre. Sie hielt sie mir an den Mund und rieb mir behutsam über den Rücken, während ich ein- und ausatmete.
»Gut so, mein Junge. Ruhig und gleichmäßig«, sagte Dad, und mein Atem beruhigte sich langsam.
Mum rieb mir mit kreisenden Bewegungen über den Rücken. »Tut mir echt leid, Michael. Wirklich. Wir hätten dich nicht so erschrecken sollen. Aber jetzt, wo das Ganze zur Sprache gekommen ist, habe ich das Gefühl, als wäre eine schwere Last von mir genommen. Endlich müssen wir nicht mehr herumschleichen. Du weißt Bescheid, warum sollten wir es da noch verbergen? Weißt du, ich glaube, du wirst dich daran gewöhnen.«
Ich schnappte mir die Papiertüte, hielt sie mir an den Mund und atmete weiter ein und aus.
Geplauder mit Chas
Abschrift der 1 . Sitzung [17]
Anwesende Personen
Swarbrick, Michael – Proband (nachstehend » MS «)
Swaffham-Bunstable, Professor Charles Algenon (nachstehend »Chas«) [18]
Ort
Universität Preston ( UP ), Fachbereich Psychologie, Beobachtungsraum 2 .
Hintergrundinformationen
MS ist ein vierzehnjähriger Junge mit großen Selbstbildproblemen, die von seinem (subjektiv) ungewöhnlichen Erscheinungsbild herrühren. [19] Infolgedessen neigt er dazu, sich übermäßig auf die körperlichen Mängel anderer Menschen zu konzentrieren. Beispiel: In seinem Gefühlstagebuch sinniert er oft über die
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