Das Perlenmaedchen
Ehrenwerte Malinal«, sagte Chac. »Aber ich komme in einer dringenden Angelegenheit. Ich habe erfahren, dass Häuptling Türkisrauch vorhat, uns heute Nacht zu überfallen. Ich habe die Absicht, mich für euch zu verwenden.«
»Zu verwenden?« Erschrocken schaute Ixchel zum dichten Dschungel hinter ihnen. Versammelte sich dort bereits eine Heerschar von Kriegern?
Chac wandte sich an Einauge, der ihn mit hängender Unterlippe anstaunte. »Mein Freund, ich möchte, dass du mit H’meen Häuptling Türkisrauch einen Besuch abstattest. Sagt ihm, dass Tenoch von den Chapultepec die Anwesenheit des Häuptlings bei einem wichtigen Fest erbittet, dass wir seinen Segen für diese Feierlichkeit erbitten und dass wir ihm unsere Ehrerbietung bezeugen möchten.«
Balám, die Augen misstrauisch zusammengekniffen, bahnte sich einen Weg zu Chac. »Was ist denn in dich gefahren, Bruder?«, fauchte er und musterte Chac verächtlich von oben bis unten. »Hast du den Verstand verloren?«
»Mein Verstand war noch nie so klar wie jetzt, Bruder«, gab Chac zurück. »Du hast gesagt, uns bleibt nichts anderes übrig als entweder unverzüglich aufzubrechen oder gegen Türkisrauch zu kämpfen. Aber das stimmt nicht. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit.«
»Und die wäre?«
»Nun, Türkisrauch als Freund zu gewinnen. Ich besiege meinen Feind, Bruder, indem ich ihn zu meinem Freund mache.«
»Und wie willst du das anstellen?«
»Indem ich zwei Waffen einsetze, auf die Häuptling Türkisrauch nicht gefasst ist: Demut und Respekt.« Chac lächelte. »Kein großer Anführer wird die Gelegenheit verstreichen lassen, als großherzig oder edelmütig angesehen zu werden.«
»Du beschwörst Unheil herauf«, warnte Balám. »Aber keine Sorge. Meine Krieger stehen bereit, falls deine Versuche, Freundschaft zu schließen, fehlschlagen.« Er machte kehrt und stapfte mit seinen Vettern davon.
Chac wandte sich Tonina zu. »Jetzt weiß ich auch, warum ich die Augen nicht von dir wenden konnte, als ich dich das erste Mal auf dem Marktplatz von Mayapán sah. Ich muss instinktiv die Verbindung zwischen uns gespürt haben. Nicht der Zufall hat uns zusammengeführt, sondern unser beider Schicksal.«
Er beugte sich vor, sodass nur sie ihn hören konnte. »Tonina«, sagte er, »du hast mich einmal gefragt, warum ich mich immer gesträubt habe, die Rolle des Anführers zu übernehmen, und ich sagte dir, das hätte mit dem zu tun, was meine Mutter mir als Kind gesagt hat, nämlich ›Sei niemals ein Versager‹. Das war ihre größte Befürchtung. Und wurde bald zu meiner größten Befürchtung. Als ich dich dann heute Morgen aus der Hütte treten sah, Tonina, löste dein Anblick eine Flut verschütteter Erinnerungen in mir aus. Ich versuchte, vor ihnen davonzulaufen, aber sie waren ein Teil von mir, und so kam es, dass ich mich ihnen endlich stellte. Und aus all diesen Erinnerungen schälte sich die Erkenntnis heraus, dass ich meine Mutter missverstanden hatte! Was sie damit meinte, war: Versage dich niemals. In der Bedeutung: Lass nie jemanden im Stich. Also genau das Gegenteil! Die ganzen Jahre hindurch haben mich diese fehlgedeuteten Worte zurückgehalten. Aber das ist jetzt vorbei.«
Es gab noch mehr, was er ihr sagen wollte, aber dies war nicht der richtige Ort, über seine Gefühle, sein neues Wissen zu sprechen. Das hob er sich für später auf, genauso wie er erst einmal verarbeiten musste, dass seine Mutter sich keineswegs ihres Volkes geschämt hatte – in Chac nicht das Gefühl genährt hatte, ihr Volk, das auch seins war, sei als minderwertig anzusehen, wie Balám und andere Maya das taten. Es waren andere gewesen, die dieses Vorurteil in Chacs junges Herz gepflanzt hatten. Jetzt wusste er, dass seine Mutter in Wahrheit stolz auf ihr Volk gewesen war.
Und nun wollte er ihr Ehre machen.
Die Sonne senkte sich hinter dem Regenwald und warf lange Schatten auf den Strand. Tonina konnte den Blick nicht von seinem Gesicht wenden – er war noch immer Chac, und andererseits war er es auch nicht. Als hätte er endlich die Tür zu einer inneren Kraft und neuem Selbstbewusstsein aufgestoßen. Sie spürte, dass all seine Zweifel und Ängste von ihm abgefallen waren. Vor ihr stand ein starker und selbstbewusster Mann, der seine Bestimmung kannte.
Tonina wünschte sich, er würde sie in die Arme schließen. Es verlangte sie danach, seine Lippen auf ihren zu spüren. Nun musste es doch eine Chance für ihre Liebe geben.
Heute, so sagte sie sich, ist
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