Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
was du meinst.«
    Er zwinkerte. Begriffsstutzig war das Mädchen nicht.
    »Die Maya sind ein herrliches Volk«, meinte Einauge und biss herzhaft in einen Maiskolben. »Du wirst nirgendwo ein Volk finden, das entgegenkommender und gastfreundlicher ist«, sprach er mit vollem Mund weiter. »Und wie höflich sie sind! Wenn Mann und Frau sich zur Ruhe begeben, dann so, dass der Kopf des einen an den Füßen des anderen zu liegen kommt, damit keiner gestört wird, falls einer von ihnen rauchen möchte. Die da drin hingegen« – er deutete mit dem Daumen in Richtung der Mauern – »die Adligen. Von denen kann man das nicht zu behaupten. Selbstsüchtig sind die. Schauen den ganzen Tag in den Spiegel.«
    »Spiegel?«
    »Etwas, in das du hineinblickst und dich dann selbst siehst.«
    »Guay!« Tonina riss die Hand hoch. »Wie kann jemand sein eigenes Gesicht sehen?«
    »Man nennt das Spiegelung. Hast du noch nie ins Wasser geschaut?«
    Sie dachte daran, wie sie als Kind mit den anderen Mädchen im Gras am Ufer der Lagune gekniet und auf die unbewegte Wasseroberfläche der Lagune gestarrt hatte. Sie hatten die Gesichter, die zu ihnen aufschauten, für Wassergeister gehalten. Konnte es sein, überlegte Tonina jetzt, dass sie damals ihr eigenes Gesicht gesehen hatte?
    Einauge musterte Tapferer Adler von Kopf bis Fuß. Seine eigenartige, direkt kränklich wirkende blasse Hautfarbe, den feingliedrigen Körperbau. Durchaus feminin, wie Einauge befand. Keinerlei Tätowierungen, keine Körperbemalung, nur eine Halskette aus Gehäusen der Strandschnecke, wahrscheinlich ein Geschenk des Mädchens. »Was stimmt mit deinem Freund nicht? Kann er nicht sprechen?«
    »Er hat sich am Kopf verletzt. Sein Gedächtnis scheint verloren gegangen zu sein.«
    Während Einauge seine würzige Tortilla aß, schweiften seine Gedanken zu den unzähligen Wundern und Neuigkeiten, die er diesem Inselmädchen im Lande der Maya erklären könnte. »Es gibt hier viele feine Speisen«, sagte er mit vollem Mund, »eine Delikatesse ist etwa die Milch der Hirschkuh. Man fängt eine Hirschkuh, die geworfen hat, und entzieht ihr die Milch. Für einen Becher Milch lassen die Adligen hier in der Gegend jede Menge Kakaobohnen springen.«
    Tonina hatte noch nie gehört, dass jemand noch Milch trank, wenn er älter als drei Jahre war, wenn man Kinder der Mutterbrust entwöhnte. Welch absonderliche Menschen doch jenseits dieser Mauer lebten!
    Als sie dies anmerkte, dachte Einauge nur: Was für ein einfältiges Pärchen. Haben keine Ahnung, wie es in einer Stadt zugeht. Vor allem das Mädchen. Sobald sie nichts mehr besaß, würde sie ihren Körper verkaufen müssen. Und der Junge auch. Typisch für junges Gemüse frisch vom Land. Ihre Naivität trugen sie wie einen scharlachroten Mantel zur Schau.
    »Wie weit ist es bis zum Meer?«, wollte Tonina jetzt wissen. Einauge deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Da lang in nördlicher Richtung kommt man in drei Tagen zur großen Bucht von Campeche. Wir befinden uns hier auf einer sogenannten Halbinsel, einem ausgedehnten Stück Land, das aus dem Festland herausragt. In dieser Richtung« – er deutete nach Westen – »liegt ein weiterer Ozean.«
    Das Mädchen hob die Augenbrauen. »Ein weiterer Ozean? Wie kann das sein?«
    »Da entlang« – sein kurzer Arm deutete jetzt nach Nordwesten – »erstreckt sich ein Land, das dem Vernehmen nach unendlich groß ist.«
    Tonina schluckte. Noch nie hatte sie so viel Neues auf einmal erfahren. Sie sah sich um. Auch wenn es in den einzelnen Lagern ausgelassen zuging, während man dem Essen zusprach oder seine Späße trieb, mit der Flöte aufspielte oder die Trommel schlug, entging Tonina nicht, dass auch viele darunter waren, die nichts hatten, um ihren Hunger zu stillen.
    Auf ihre entsprechende Frage antwortete der Zwerg: »Es gibt nicht genug zu essen, weil nicht genug Land da ist, um mehr anzubauen. Dabei kommen mit jedem Tag noch mehr Leute in die Stadt.«
    »Die armen Kinder«, murmelte Tonina mit Blick auf die Familie, die neben ihnen hockte. »Wie dünn sie sind!«
    »Sie sind ganz zufrieden.« Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Die Eltern reiben ihnen das Zahnfleisch mit einer Paste aus Tabakblättern ein. Das vertreibt den Hunger.«
    Tonina nickte. Auf ihrer Insel litt zwar nur selten jemand Hunger, aber sie wusste, dass der Geist, der in Tabakblättern wohnte, den Appetit unterdrückte.
    Auf dem Marktplatz brach unvermittelt Tumult aus. Trompeten schmetterten, mit

Weitere Kostenlose Bücher