Das Perlenmaedchen
Chichimeke mit der Hakennase war alles andere als das. Wenn einer gut aussah, dann er, Einauge, der pfiffige Taíno-Händler. Er hatte sich doch selbst im Spiegel betrachtet, musste es also wissen. Mit seinen kurzen Armen und Beinen, mit dem dicken Rumpf, und trotzdem ihm ein Auge fehlte, wusste der Zwerg, dass er auf Frauen ungeheuer anziehend wirkte. Waren seine vielen Eroberungen nicht der beste Beweis dafür?
»Sieh doch mal genau hin. Dann wirst du merken, wie sehr sich Chac von Prinz Balám und den anderen Adeligen in der Gruppe unterscheidet«, sagte er. »Die Maya haben hohe Wangenknochen, schräg stehende Augen und von Natur aus eine rötlich gefärbte Haut. Sie pressen den weichen Schädel ihrer Babys zwischen zwei Bretter, bis er abgeflacht bleibt. Auch die schrägen Augen werden den Babys künstlich beigebracht. Und hier« – er fuhr sich über den Nasenrücken – »schneiden sie die Haut auf und pflanzen etwas ein, damit sie diesen Zinken bekommen, der dir bestimmt schon aufgefallen ist. Der Inbegriff von Schönheit für die Maya ist ein fliehendes Kinn und vorstehende Schneidezähne. Wie du das bei Prinz Balám sehen kannst. Chac hat nichts von alldem aufzuweisen. Hat wie ich einen runden Kopf und diese dicke Nase. Jeder sieht sofort, dass er kein Maya ist.
Dafür aber ist er unser absoluter Held beim Ballspiel. Sein Name sagt alles, denn ›Chac Kaan‹, wie sein voller Name lautet, bedeutet in der Sprache der Maya ›große Schlange‹. Diesen Namen hat er für seine Wendigkeit und Schnelligkeit auf dem Spielfeld erhalten und weil er, so wie eine Schlange niemals stirbt, niemals verliert.«
Tonina beobachtete, wie die erregte Menge weiterhin fieberhaft versuchte, an die beiden Männer heranzukommen. Als sie Einauge fragte, warum sich die Leute derart gebärdeten, erwiderte der: »Einen Helden zu verehren ist doch normal. Ist das auf deiner Insel nicht so?«
Sie musste überlegen. Gewiss, es gab Männer, die verehrt und geachtet wurden, zum Beispiel Huracan und der Häuptling. Oder aber ein hervorragender Schwimmer. Oder ein Knabe, der sich gegen einen Barrakuda zur Wehr gesetzt und ihn besiegt hatte. Aber eine solch stürmische Begeisterung, wie sie diesen beiden Männern entgegenschlug? Nein.
Als sich die Prozession näherte, bemerkte sie, wie unterschiedlich jeder der beiden Helden auf die jubelnde Menge reagierte. Chac, der junge Mann aus einfachen Verhältnissen, bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln und strich den sich wie außer Rand und Band gebärdenden Kindern nachsichtig und amüsiert über den Kopf. Prinz Balám dagegen blieb, die künstlich verdickte Nase hoch in die Luft gereckt, unnahbar. »Sie sind wie Brüder«, merkte Einauge an. »Keine Blutsbrüder, aber so gute Freunde, dass sie sich den Mutterleib hätten teilen können.«
Tonina musterte den freundlich lächelnden Chac und den distanzierten Prinz Balám, dessen Aufmerksamkeit jetzt ein Kind mit einem Hündchen zu gewinnen suchte. Als das Hündchen entwischte, auf den Prinzen zulief und ausgelassen um seine Füße herumtollte, jagte Balám das Tier mit einem knappen Tritt fort.
»Wie verschieden sie sind«, raunte Tonina.
Mehr als du ahnst, stimmte Einauge ihr im Stillen zu. Der lüsterne Prinz Balám hatte sich mit einer aufreizend dicken Frau vermählt. Chacs Ehefrau hingegen, die Ehrenwerte Paluma, war, soweit Einauge wusste, in sich gekehrt, schüchtern und reichlich mager. Keine Frau, die sich Einauge ins Bett geholt hätte.
In diesem Moment blieb Chac stehen und lächelte seine Bewunderer an. Als seine dunklen Augen Tonina streiften, die alle anderen um einen Kopf überragte, schien er wie gebannt zu sein. Tonina fing seinen Blick auf und schrak zusammen, ohne zu begreifen, warum. Die Zeitspanne, in der sie einander in die Augen sahen, dehnte sich schier endlos. Keiner von beiden machte die kleinste Bewegung. Einauge spähte verunsichert von einem zum anderen und fragte sich, ob das der Auftakt zu einem göttlichen Zauber war oder zu etwas Schicksalhaftem, zu etwas, das mehr besagte als ein argloser Beobachter mitbekam, vielleicht noch nicht einmal das Mädchen selbst oder Chac.
Die atemlose Stille des Augenblicks zerbrach. Chac schien sich wieder gefangen zu haben. Zusammen mit der Prozession durchschritt er die Mauer. Als sich die Tore hinter dem Zug schlossen, kehrte die weiterhin erregt schnatternde Menge zu ihren Lagerplätzen zurück.
Tonina rührte sich nicht von der Stelle. Ohne auf das lärmende
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