Das Perlenmaedchen
Treiben auf dem Marktplatz zu achten, spähte sie durch die von Rauchschwaden durchzogene Nacht auf die verschlossenen Holztore und dachte nur an Chac, den umjubelten Ballspieler.
Erst nach einer Weile ließ sie sich wieder neben Einauge nieder, dessen Gedanken noch immer um das kurze merkwürdige Intermezzo zwischen Chac und Tonina kreisten. Ergab sich da möglicherweise etwas, wovon er profitieren konnte? »Wie ist dein Freund zu seiner Kopfverletzung gekommen?«, fragte er, während er sich mit einem Zweig in den Zähnen herumstocherte.
Als Tonina berichtete, wie sie Tapferer Adler befreit hatte und wie sie dann von den Adlerjägern verfolgt worden waren, musterte Einauge den jungen Mann genauer. Irgendetwas Befremdliches war an ihm. Diese eindringlichen und so strahlenden gelben Augen. Und diese Verzauberung, die den Jungen wie der Hauch eines frischen Morgens umgab. Die Gedanken des Händlers drifteten ab auf ein anderes, weitaus vertrauteres Gebiet – auf das des Geschäfts. Wenn die Adlerjäger, wie das Mädchen erzählt hatte, Tapferen Adler über eine so weite Strecke verfolgt hatten, dann musste er ihnen etwas wert sein. Vielleicht war er weder Mann noch Frau. Gewisse Abarten menschlicher Wesen standen hoch im Kurs.
»Wie sehen diese Jäger eigentlich aus?«, fragte er. »Ich finde, wir sollten auf der Hut sein, damit wir euch vor ihnen verstecken können.«
Tonina beschrieb die braun und schwarz gestreiften Männer, von denen sie den mit dem verwachsenen Arm für den Anführer hielt. Einauge hörte aufmerksam zu.
»Wie lange gedenkt ihr in Mayapán zu bleiben?«
»Wir bleiben nicht hier«, erwiderte Tonina, die in Gedanken weiterhin bei Chac dem Helden weilte und dessen Gesicht sie unverständlicherweise nicht vergessen konnte. »Wir besorgen uns Proviant, und dann gehen wir nach Quatemalán. Ich bin auf der Suche nach einer seltenen Blume, die dort wachsen soll.«
»Was für eine Blume?«
Sie beschrieb sie ihm. »Quatemalán bedeutet in der Sprache dieser Region ›Land vieler Bäume‹«, meinte Einauge. »Gut möglich, dass die Blume, die du suchst, die Blüte von einem Baum ist, also von einem Ast herabhängt.«
Seine Gedanken überstürzten sich. Er musste es schaffen, die beiden in der Stadt festzuhalten, bis die Jäger auftauchten. Seit Tagen versuchte er bereits, ins Innere der Mauern zu gelangen, aber die Stadt war derart überfüllt, dass nicht jedem Einlass gewährt wurde.
»Was diese Blume betrifft, die für dich so wichtig ist«, sagte er, »so wisse, dass zum königlichen Palast ein Garten gehört, in dem angeblich alle Pflanzen der Welt wachsen. Bestimmt findest du dort, was du suchst.« Nun, eigentlich war er sich nicht sicher, ob die besagte rote Blume im Palastgarten wuchs, aber für seinen Plan war es hilfreich.
Tonina war auf der Stelle ganz Ohr. War es möglich, dass sie morgen in den Besitz der Blume kam, bald darauf ein Kanu auftrieb und den Rückweg zur Perleninsel antrat? »Aber wie kommen wir in den Palast hinein?«
Einauge überlegte. Wenn er die Wachposten erst einmal bestochen hatte, wäre für ihn der Weg frei – die königliche Familie sowie die Angehörigen des Adels schätzten es stets, einen Zwerg um sich zu haben. Aber das Mädchen? »Wir müssen dich schicklich einkleiden«, sagte er und rümpfte die Nase angesichts ihres lächerlichen Aufzugs. »Außerdem brauchst du … «
»Und Tapferer Adler ebenfalls«, fiel sie ihm ins Wort. »Ohne ihn gehe ich nirgendwo hin.«
Einauge hatte nicht die Absicht, einen solchen Fang aus den Augen zu lassen. Mit Blick auf den Jungen befand er, dass Tapferer Adler allein schon durch sein Äußeres Zutritt zum Palast erhalten würde. Das Mädchen hingegen war ein Problem. Konnte sie tanzen? Singen? Flöte spielen? Tonina verneinte jede dieser Fragen. Bis ihm die rettende Idee kam: »Du wirst dich als Wahrsagerin ausgeben.«
»Aber ich kann gar nicht wahrsagen!«
»Das macht nichts. Du erzählst den Leuten einfach, was sie hören wollen. Schau dich doch mal um. Was möchten denn alle Menschen erfahren, vom Bauern bis zum König? Ihre Zukunft!«
»Wird man mir glauben?«
»Das werden sie, wenn du das da benutzt.« Er deutete auf den durchsichtigen Becher, der aus ihrem Reisesack lugte. »Jeder wird annehmen, dass einem derart ungewöhnlichen Gefäß besondere Kräfte innewohnen.«
Tonina nickte zweifelnd.
»Ich überlasse euch meinen Platz.« Einauge suchte bereits seine Habseligkeiten zusammen. »Ihr könnt beide hier
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