Das Perlenmaedchen
schlafen.«
Dankbar und so selbstverständlich, als hätten sie seit jeher die Nächte auf diese Weise verbracht, kuschelten sich Tonina und Tapferer Adler aneinander. Während sie rasch ein stilles Gebet an ihre Delphingeister und einen stummen Dank an den freundlichen Zwerg für seine Hilfe richtete, kam Tonina ein flüchtiger Gedanke. Festhalten konnte sie ihn nicht; aber er schien etwas damit zu tun zu haben, dass Einauge sich zwar als Händler ausgab, aber keinerlei Waren mit sich führte und erst recht keine Träger. Das Letzte, was sie überlegte, ehe sie in einen unruhigen Schlaf glitt, war, dass er unter Umständen sogar gefährlich sein konnte und dass sie und Tapferer Adler, sobald es hell wurde, dem Zwerg möglichst aus dem Weg gehen sollten.
12
Es war so lange her, dass irgendetwas Einauge schockiert hatte, dass er sich wirklich für abgebrüht hielt – bis Tonina sich auf dem Marktplatz nackt auszog.
Bevor sie die Stadt betreten könnten, hatte der Händler gesagt, müsse sie sich schicklich kleiden: mit einem knöchellangen Rock und einem Oberteil, das ihr über die Hüften reiche und Ärmel aufweise. »Maya-Frauen sind sittsam«, hatte er gesagt. »Vor allem die Oberschicht. Denk immer daran, dass du nicht auf den Inseln bist.«
Und dann hatte sie zu seiner Verblüffung die Kleider entgegengenommen, die er mit einer ihrer Perlen erworben hatte, hatte sie auf dem Boden abgelegt und im hellen Sonnenschein des jungen Morgens ihren »Rock« und den hamac- Kittel abgestreift. Völlig nackt war sie nicht, weil sie unter dem sogenannten Rock einen Schurz trug, der ihre Scham bedeckte, aber für die um sie herum war der Anblick, der sich ihnen bot, schockierend genug. Einauge warf, einen Aufschrei unterdrückend, hastig seinen zweiten Umhang über sie.
Tonina lachte. Um gleich darauf einzusehen, dass sie, die es gewohnt war, fast nackt zu schwimmen und ihren Austernfang unter den Blicken anderer Frauen und Männer an Land zu bringen und erst dann ihren Grasrock wieder anzulegen, sich schleunigst auf hiesige Verhaltensweisen einstellen musste.
Während Einauge sich seine beiden Reisesäcke auflud, gingen ihm beunruhigende Gedanken durch den Kopf. Der Anblick von Toninas Körper hatte ihn erregt, was nicht weiter ungewöhnlich war, dachte er doch fast unentwegt an Frauen und Fleischeslust. Nein, bei Tonina kam hinzu, dass ihr jegliche Schamhaftigkeit abzugehen schien, was ihn daran erinnerte, wie man auf den Inseln lebte und vor allem seit wie vielen Jahren er nicht mehr zu Hause gewesen war.
Ich lebe schon viel zu lange unter den Maya, dachte er wehmütig. Wenn sein geheimer Plan jedoch zum Erfolg führte, konnte er auf die Inseln zurückkehren, in ein Leben, das er vergessen hatte, nach dem er sich aber plötzlich sehnte.
Sein Plan war gut. Aber er musste rasch die Adlerjäger ausfindig machen. Und er musste sich etwas einfallen lassen, um dem Mädchen den Abschied von dem Jungen zu erleichtern. Wenn sie ebenso verzweifelt reagierte wie beim Verlust ihres kleinen Beutels, würde dies schwer auf Einauges Gewissen lasten. Irgendwie musste er Toninas Gefühle in eine andere Richtung lenken. Sie dazu bringen, sich für einen anderen zu interessieren, um ihr Tapferen Adler zu entführen.
An diesem Morgen wollte sich Einauge mit seinen jungen Schützlingen Zutritt zur Stadt verschaffen. Er freute sich auf die Abwechslung. Kaum dass Tonina aufgewacht war, die Stadtwächter die Fackeln gelöscht und auf den Mauern die Trompeten geschmettert hatten, hatte sie sich in ihrer Wissbegier für die Sprache der Maya unersättlich gezeigt. »Wie heißt dies?«, hatte sie gefragt, kaum dass Einauge sein eines gutes Auge geöffnet hatte. »Wie sagt man dazu?« Als sie gehört hatte, wie sich die in der Nähe lagernden Familien zankten, hatte sie Einauge gebeten, ihr den Wortwechsel zu übersetzen.
Was auf die Dauer lästig war. Immerhin aber hatte sie ein gutes Gedächtnis. Nichts musste er zweimal wiederholen. Auch als ungemein hartnäckig erwies sie sich. Kaum dass die Blumenstände öffneten, war Tonina hingelaufen, um sich abermals nach dieser roten Blume umzusehen. Enttäuscht war sie zurückgekommen. »Wann können wir endlich in die Stadt?«, hatte sie gedrängt. Und jetzt, da sie bereit waren, nahm das Mädchen, sittsam gekleidet und über ein paar Worte und Sätze in der Sprache der Maya verfügend, Tapferen Adler bei der Hand und ging Einauge voraus – so als wäre sie es, die ihm den Weg zeigte!
Als sie
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