Das Perlenmaedchen
durch die Menge hasteten, fiel Einauge wieder die glatte, makellose Haut von Tapferem Adler auf. Schon merkwürdig. Nicht die kleinste Tätowierung. Unversehens fiel Einauge etwas ein, das ihn so erschreckte, dass ihm ein leises »Guay!« entfuhr.
Der Knabe … Tapferer Adler … war es möglich?
Tonina, die nicht ahnen konnte, was ihren kleinwüchsigen Gastgeber beschäftigte, dafür aber sehr wohl merkte, wie ihr Gefährte begafft wurde, ließ die Hand von Tapferem Adler nicht los. Ihn selbst schien es nicht zu stören, als er sich, die goldenen Augen vor Verwunderung weit aufgerissen, die Brauen gelegentlich runzelnd, so als jage er einer flüchtigen Erinnerung nach, durch die Menge schob. Die Wunde auf seiner Stirn heilte bereits ab, aber ansonsten? Noch immer konnte er nicht sprechen, sich an nichts erinnern.
Auch Tonina hing einem Gedanken nach. Gestern, als sie eingeschlafen war, hatte ihr irgendetwas zu schaffen gemacht, das mit dem Zwerg zusammenhing. Aber das war nicht wichtig, sagte sie sich. Sie musste sich ganz auf ihr Ziel konzentrieren. Ob sie die rote Blume bald finden würde?
Die mürrischen Wachposten am steinernen Torbogen inspizierten jeden Besucher, grapschten in Reisesäcken herum, spuckten auf den Boden und wiesen ohne triftigen Grund Zutrittsuchende ab. Einauge jedoch verstand sich aufs Feilschen – zwei von Toninas Perlen und aus seinem eigenen Sack drei kostbare Kakaobohnen wechselten die Besitzer – und sagte dann zu seinen Begleitern: »Rasch! Wir müssen zum Hauptplatz, zur Plaza!«
Wie sich herausstellte, war die Stadt ebenso überfüllt wie der Marktplatz, wenngleich ein Anflug von Ordnung herrschte. Einauge, der mit seinem eigentümlich schlingernden Gang die Führung übernahm, erklärte, dass die Mehrheit der Stadtbevölkerung in dicht besiedelten, jeweils von einem Handwerkszweig geprägten Vierteln lebten – da gäbe es das Viertel der Holzschnitzer, das Viertel der Steinmetze und so weiter –, und dass deren aus Stein und Holz gefertigten bescheidenen Häuser sich entlang gewundener Wege und Gassen drängten, mit Gärten dazwischen und niederen steinernen Mauern als Grundstücksabgrenzung. Die Maya seien erpicht auf Landbesitz, meinte Einauge.
Der Rauch von Tausenden Kochstellen erfüllte die Morgenluft. Die nächtliche Ruhe war dem Lärmen schreiender und lachender Kinder gewichen; Hunde bellten, Frauen unterhielten sich mit Nachbarn, das typische Geräusch von klatschenden Händen bei der Verarbeitung von Maismehl zu Tortillas war zu hören. Niemand achtete auf die drei Fremden.
»So verschönern sie ihre Kinder«, sagte Einauge, als Tonina vor einem weißen Steinhaus stehen blieb, in dessen Garten zwei Frauen das Frühstück zubereiteten. Auf einer Decke zwischen ihnen lag, das Köpfchen zwischen zwei Bretter gepresst, ein kleines Baby. Die Bretter bildeten ein V, das schmale Ende zeigte nach oben. »Wenn diese Vorrichtung entfernt wird, wird das Kind wie alle anderen aussehen – mit einem spitz zulaufenden Kopf und schräg stehenden Augen.«
Endlich gelangten sie zum Ende des von zwei steinernen Mauern gesäumten Weges, und als das Trio auf den gepflasterten Hauptplatz hinaustrat, der sich vor ihnen erstreckte, stockte Tonina einmal mehr der Atem.
Auf der gegenüberliegenden Seite ragte in majestätischer Pracht eine Pyramide in den von keinem Wölkchen getrübten Himmel. Eine kleinere Version von der an dem Ort, den Einauge Chichén Itzá genannt hatte. Anders als jenes dem Verfall preisgegebene, von Unkraut überwucherte Bauwerk war Mayapáns Pyramide mit einem glatten, roten Putz versehen, sodass die Wände in der Sonne wie Blut leuchteten. Schwindelerregend erhob sich der Bau in Terrassen und Stufen empor, und ganz oben stand ein Tempel. Aus Weihrauchfässern stieg Rauch, Fähnchen mit langen Federn wehten im Wind.
An zwei Seiten der Plaza standen kleinere Tempel, ebenfalls in Pyramidenform und ebenfalls mit leuchtend roten Wänden, verziert mit bunten Darstellungen und Friesen. Auch auf ihren Spitzen wehten Fähnchen. An der vierten Seite erhob sich der Palast, ein grellroter Bau mit Stufen, Terrassen und Säulengängen. Tonina kam es vor, als hätten die Maya eine besondere Vorliebe für Stufen und Treppen: Abgesehen von gedrungenen Häuschen war das Betreten eines Gebäudes vom Erdgeschoss aus offenbar nicht möglich.
Wie auf dem Marktplatz drängte sich auch auf der Plaza eine Menschenmenge. Diese hier war jedoch um einiges aufwändiger gekleidet als
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