Das Perlenmaedchen
die jenseits der Mauern – hier gingen der Adel, die Wohlhabenden und Erfolgreichen ihren täglichen Geschäften nach. Tonina hätte nie gedacht, solch prächtig herausstaffierte Männer und Frauen zu Gesicht zu bekommen, die sich da in Baumwollgewändern und farbenfrohen Umhängen zeigten, in mit Jade und Gold durchzogenen Lendenschurzen, in aus Korb geflochtenen und mit Federn und Perlen besetzten Kopfbedeckungen, die Gesichter bemalt mit bunten, verschlungenen Mustern, die Handgelenke, Knöchel, Ohren und Lippen reich mit Schmuck bestückt.
Noch etwas fiel ihr auf. Fast jeder, ob Edelmann oder einer von der Stadtwache oder ein Obstverkäufer, hatte einen grünen oder blauen Streifen Stoff um den Oberarm geschlungen. Als sie Einauge fragte, was dies zu bedeuten habe, meinte er nur: »Das hat mit den Spielen zu tun. Die Leute zeigen, welche Mannschaft sie unterstützen. Grün steht für die Mannschaft aus Mayapán, blau für die aus Tulum. Hängt davon ab, wem man den Sieg wünscht.« » Du trägst aber kein Band.«
»Ich unterstütze beide Mannschaften«, grinste er.
Tapferer Adler, der sich beim Überqueren der gepflasterten Plaza dicht an Toninas Fersen heftete, starrte unwillkürlich zum höchsten Punkt der Pyramide – dem Tempel. »Sieht er dort etwas?«, fragte Einauge, dem der Blick des jungen Mannes auffiel.
»Ich glaube, er sucht nach seiner Erinnerung«, meinte Tonina und drückte dem Gefährten beschwichtigend die Hand.
Da die Haupttreppe des Palastes überfüllt war mit Amtspersonen, die sich mit den königlichen Beamten besprechen wollten, führte Einauge seine beiden neuen Freunde in eine seitlich gelegene gepflasterte Gasse, von der aus sie zu einer weiteren Treppe in der hoch aufragenden Mauer gelangten. Hier begegneten ihnen Menschen, die sich nicht sonderlich von ihnen selbst unterschieden. Alle hatten sie einen Reisesack über der Schulter, alle erhofften sie sich eine großmütige Geste des Königs.
»Wir haben Glück«, stellte Einauge fest, als sie sich unter eine Gruppe von Musikanten mit Rasseln, Muschelhörnern und aus dem Panzer von Schildkröten gefertigten Trommeln mischten. »Die jährlich stattfindenden Spiele ziehen viele Besucher an, was bedeutet, dass der König heute Abend mehr Gäste als sonst geladen hat. Sie werden nach einem abwechslungsreichen Programm verlangen.«
Er wandte sich an Tapferen Adler. »Ich werde Flöte spielen. Du brauchst nichts weiter zu tun als dich zur Melodie zu bewegen. Meinst du, dass du das kannst?«
Tapferer Adler nickte. Einauge vertraute darauf, dass die außergewöhnliche Erscheinung des Jungen zusammen mit seinem Flötenspiel ausreichend Gesprächsstoff bieten würde. Dagegen das Mädchen und ihre Wahrsagerei … da sie von Grund auf so verdammt ehrlich war, gab sie wahrscheinlich eine miserable Lügnerin ab. »Denk daran«, beschwor er Tonina erneut, »wenn du meinst, du müsstest die Wahrheit sagen, dann drehe sie so hin, dass sie angenehm klingt. Ungünstige Vorhersagen hört man nicht gern.«
Als er ihren verunsicherten Blick bemerkte, fügte er hinzu: » Du bist es doch nicht, von der die Prophezeiung kommt. Sondern vom Wasser. Verstehst du? Wie du vielleicht inzwischen gemerkt hast, ist Wasser in diesem Land, in dem es keine Bäche, Flüsse oder Seen gibt, etwas Kostbares. Die Maya glauben, dass dem Wasser nicht anders als dem Blut gewaltige Kräfte innewohnen. Füll deinen Becher mit Wasser, gib es einem Gast zu trinken, und dann ›liest‹ du daraus seine oder ihre Zukunft.«
Am großen Torbogen kontrollierten Wachposten abermals die Besucher. Einauge zahlte zwei Kakaobohnen und brachte vor, dass er Seine Großherzige Güte mit ausgefallener und erregender Unterhaltung erfreuen wolle. Als die Wachen Tonina, die sie für eine Dirne hielten, mit schlüpfrigen Bemerkungen bedachten, fuhr Einauge dazwischen und stellte sie als hoch angesehene Wahrsagerin vor. Amüsiert dachte er im Stillen, dass er sich damit zum allerersten Mal schützend vor die Tugendhaftigkeit einer Frau stellte.
Da der Palast aus einem Wirrwarr von Treppen, Höfen, Zimmern, Galerien und Korridoren bestand, begleitete man sie durch die Gänge. Nach einiger Zeit vernahmen sie, wiewohl noch gedämpft, bereits Musik und Stimmen. Bald darauf gelangten sie in einen großen Raum, in dem Artisten auf ihren Auftritt warteten und bis dahin ihre Nummer noch einmal probten, ihre Gliedmaßen dehnten oder vor sich hin summten.
Wie es seine Gewohnheit war, warf Einauge einen
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