Das Perlenmaedchen
Boden gossen, mussten Sklaven unentwegt die Pfützen beseitigen.
Verführerische Düfte entströmten einer nicht endenden Parade von Platten, auf denen sich gebratene Vögel und Kaninchen türmten, dampfende süße Kartoffeln und Mais, schimmernde Papayas und Guaven, Kürbisse und Honigwaben. Einige der Köstlichkeiten waren Tonina unbekannt, so zum Beispiel rote runde Früchte, die Einauge Tomaten nannte.
Und dann wurde sein Blick von etwas gefesselt, was ihm eine seiner Meinung nach brillante Idee eingab: Chac der Ballspieler befand sich ebenfalls unter den Gästen. War er imstande, Tonina von Tapferem Adler abzulenken?
Eine Gruppe Akrobaten beendete ihre Vorstellung und entfernte sich, und als jetzt ein einzelner Sänger schrecklich falsch eine Melodie anstimmte, stieß Einauge ein unterdrücktes »Guay!« aus, weil abzusehen war, was jetzt folgen würde.
Lauter Protest seitens des Königs ließ den Sänger jäh verstummen. Wachen mit großen irdenen Gefäßen eilten herbei. Der unglückselige Sänger sank zu Boden und hielt sich die Hände über den Kopf, als sich die mit Urin gefüllten Töpfe über ihn ergossen.
Dann packten die Wachen den armen Kerl und zerrten ihn aus dem Saal.
»Wenn ein Artist den Zuschauern missfällt, wird er bestraft«, sagte Einauge und fuhr sich mit der ausgetrockneten Zunge über die Lippen. Die Strafe konnte auch aus Auspeitschen bestehen. Hauptsächlich aber waren es Demütigungen. »Sei bemüht, ihre Gunst zu erringen, Tonina.«
Er war auf mehr bedacht als nur darauf, Demütigungen zu vermeiden. Damit seine Rechnung aufging – nämlich den Jungen an die Adlerjäger zu verkaufen –, benötigte Einauge für ein paar Tage eine Unterkunft, am besten hier im Palast. Wenn es ihnen also gelang, den König und seine Höflinge aufs angenehmste zu unterhalten, würde man sie für weitere Auftritte hier beherbergen.
Deswegen suchte Einauge von seinem Standort hinter dem Wandteppich aus nach jemandem in der Großen Halle, mit dem er Kontakt aufnehmen konnte. Als er einen Mann entdeckte, der seinem gepflegten Äußeren nach der Oberste Verwalter zu sein schien, verantwortlich für den reibungslosen Ablauf des königlichen Haushalts, grinste er.
Das Glücksspiel war die größte Leidenschaft aller Männer, von den Hochebenen der Gebirge im entlegenen Westen bis zur Tiefebene an der östlichen Spitze der Halbinsel. Noch nie hatte Einauge es mit jemandem zu tun gehabt, der nicht um dieses oder jenes gewettet hätte, selbst wenn es nur um das Wetter ging. Und Männer, die wie der Oberste Verwalter zweifellos über ausreichende Mittel verfügten, hatten eine Schwäche dafür, auf dem Marktplatz ihr Glück auszureizen, das heißt alles daranzusetzen, in großem Stil Wetten auf Waren oder Nahrungsmittel abzuschließen.
Ehe er, der Straße von Uxmal aus folgend, nach Mayapán gekommen war, war Einauge am Lager einer Karawane vorbeigekommen. Der Anführer der Karawane hatte ihn zum Essen und Trinken eingeladen. Da Einauge trotz seiner Kleinwüchsigkeit die doppelte Menge Alkohol vertrug wie ein normaler Mann, hatte er schon bald die Zunge des Karawanenanführers gelöst. Was er transportiere, hatte der geprahlt, sei Bernstein aus Chiapán, wo es so viel davon gebe, dass sein Wert gesunken sei. Deshalb erhofften sich die Hintermänner des Bernsteinhandels in den Städten der Tiefebene bessere Preise.
Da ein allein auf sich gestellter Zwerg schneller vorankam als hundert schwer bepackte Männer, war er Tage vor der Karawane in Mayapán angekommen. Und nun hatte er wertvolle Informationen zu verkaufen. Einauge war überzeugt, der Oberste Verwalter würde ein hübsches Sümmchen springen lassen, wenn er erfuhr, dass auf dem Marktplatz mit einer Bernsteinschwemme aus Chiapán zu rechnen war. Wenn also der Oberste Verwalter Bernstein verkaufen wollte, sollte er dies jetzt tun, wo er noch einen hohen Preis dafür verlangen konnte.
Als Gegenleistung für diese Information unter der Hand wollte Einauge nichts weiter als eine Unterkunft für sich und seine zwei Gefährten im Palast.
Dies waren die Handelsgüter, die Einauge verkaufte – Informationen brauchten weder Säcke noch Träger, nur sein Gehirn. Der Taíno-Zwerg war ein mit allen Wassern gewaschener Spion und Nachrichtenhändler.
Der nächste Artist war ein Mann, der sich neben dem Türvorhang aufgehalten hatte, mit einer langen Schlange, die er über seinem Kopf herumgewirbelt hatte. Seit das Reptil infolge dieser Behandlung steif
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