Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
geworden war, hielt er es wie einen hölzernen Stab an seiner Seite. Einauge nickte anerkennend. »Wenn Seine Großherzige Güte den Trick noch nicht kennt«, raunte er, »wird dieser Mann heute Abend königlich speisen.«
    »Welchen Trick?«, fragte Tonina.
    »Pass genau auf.«
    Der Schlangenbändiger schritt auf den König zu, verbeugte sich vor ihm und verkündete dann, dass er vorhabe, seinen hölzernen Stab in eine Schlange zu verwandeln. Als daraufhin der König durch einen Edelmann ausrichten ließ, dass er gespannt sei, ob dies gelänge, warf der Mann den »Stab« zu Boden, vollführte allerlei verschlungene Gesten über dem Reptil, murmelte Unverständliches, und schon kam Leben in die Schlange, und sie glitt davon. Die Zuschauer jubelten, überwältigt von dem Wunder. Der Künstler wurde in einen angrenzenden Raum geführt, wo ihn Speisen und pulque in Überfluss erwarteten.
    Endlich zog der Aufseher im Warteraum den Vorhang für Einauge, Tonina und Tapferen Adler zur Seite.
    Alle im Großen Saal sahen dem Trio erwartungsvoll entgegen. Weniger des Mädchens wegen, vielmehr wegen des Zwergs, der stets willkommen war, weil er, da er nur über ein Auge verfügte, zweifellos die besondere Gunst der Götter genoss. Die größte Aufmerksamkeit aber zog der Jüngling auf sich, weil dessen hellhäutiger Körper weder bemalt noch tätowiert war.
    Nervös und mit gesenktem Blick hörte Tonina zu, wie Einauge mit erstaunlich lauter Stimme seine »Truppe« vorstellte und seinen Monolog mit Übertreibungen, Wortspielen und Komplimenten würzte. Was ihr entging, war, dass der Zwerg mit seinem scharfen Auge jeden einzelnen der versammelten Gäste musterte, taxierte, einordnete und entsprechende Schlüsse zog.
    Während er weiterhin beredt den Hof umgarnte, warf Tonina schließlich doch mit gesenktem Kopf einen verstohlenen Blick durch den Saal. Die gesamte königliche Familie sowie der Adel hatten sich eingefunden! Welch eine Pracht sich vor ihr ausbreitete, welch eine Fülle von Schmuck und Kleidern! Und dann sah sie die beiden Ballspieler, die am Abend zuvor über den Marktplatz gezogen waren.
    Prinz Balám interessierte sie nicht. Mit seiner rot bemalten Haut, dem spitz zulaufenden Kopf und der künstlich betonten Nase unterschied er sich nicht von den anderen. Aber neben ihm, offenbar auf einem Ehrenplatz, saß, das Haupt mit Federn geschmückt und bekleidet mit einem scharlachroten Lendenschurz und darüber einem hellblauen Umhang, der Bürgerliche namens Chac. Ihm zur Seite machte Tonina eine Frau aus, wahrscheinlich seine Ehefrau, eine Maya, die Einauge unter dem Namen Paluma bekannt war. Wie die anderen Damen im Großen Saal war ihre zierliche Figur in mehr Kleider gehüllt, als Tonina für nötig hielt: Über einem grell gemusterten Kleid trug sie einen mit Perlen und Muscheln gesäumten Schal, um die Hüften einen ebenso gesäumten Gürtel und zahllose Halsketten und Armbänder. Ihr glattes schwarzes Haar wurde von einem bunten Tuch zusammengehalten, sodass die langen Zöpfe wie die Zweige einer Trauerweide herabhingen und ein Gesicht einrahmten, das, wie Tonina inzwischen wusste, dem Schönheitsideal der Maya entsprach: eine breite Nase, ein leicht fliehendes Kinn, vollfleischige Lippen, die nicht ganz die vorstehenden Schneidezähne abdeckten. Die spitz zulaufende Stirn der Ehrenwerten Paluma ging in einen in die Länge gezogenen Schädel über, weshalb ihre leicht schielenden Augen schräg standen.
    Toninas Blick wanderte zurück zu Chac. Sein Schädel war nicht deformiert, die Nase ebenso wenig verbildet, und sein durchtrainierter Körper hob sich vorteilhaft von dem seiner beleibteren Kumpane ab.
    Urplötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. Obwohl sie geglaubt hatte, Demütigungen hinnehmen zu können, schon weil sie wegen ihres Aussehens, ihres Andersseins ihr Leben lang verhöhnt und verspottet worden war, wusste sie auf einmal, dass sie, wenn sie gleich ihren Auftritt hatte, nicht länger bereit war, Kränkungen hinzunehmen.
    Nicht in seiner Gegenwart.
    Wie kaum ein anderer verstand sich Einauge darauf, etwas zu tun und an etwas ganz anderes zu denken. Während er den König und seinen Hofstaat mit Schmeicheleien und blumigen Komplimenten bedachte, nahm er gleichzeitig wahr, dass Tonina wie abends zuvor auf dem Marktplatz Chac unentwegt anstarrte, der Ballspielerheld hingegen nichts davon bemerkte, sondern unbeschwert mit seinen Gefährten zechte und lachte. Was an Chac schlug das Mädchen derart in

Weitere Kostenlose Bücher