Das Perlenmaedchen
Bann?
Toninas Augen glitten von Chac zu der Frau neben ihm, Paluma, mit der er seit drei Jahren verheiratet war, die ihm aber laut Einauge noch kein Kind geboren hatte. Jetzt konnte Tonina immerhin beobachten, dass Paluma von Zeit zu Zeit die Hand auf ihren Leib legte und ein inniges Lächeln ihre Züge verklärte. Sobald jedoch Chac das Wort an sie richtete, zog sie die Hand rasch zurück, und ihr Lächeln erlosch. Ein Verhalten, das Tonina kannte und dessen Grund sie erahnte.
Einauge trat beiseite und griff zur Flöte, für den Auftritt von Tapferem Adler. Da die Höflinge bereits mit tänzerischen Darbietungen unterhalten worden waren, nahmen sie wieder die Unterhaltung auf, plauderten und lachten und sprachen weiterhin gebratenem Fasan und pulque zu. Einauges Flöte war bei dem Lärm kaum noch zu hören. Der Zwerg spielte unbeeindruckt weiter – eine aus acht Noten bestehende schlichte Melodie, der sich Tapferer Adler mit ausgestreckten Armen und anmutigen Bewegungen rasch anpasste.
Als der gertenschlanke Jüngling schweigend über den polierten Boden glitt, sich auf die Zehenspitzen stellte, Pirouetten drehte und dabei mit seinen Armen einen geschmeidigen Kreis beschrieb, wurde es im Großen Saal langsam still; bald war nur noch die Flöte zu hören. Alle Augen waren auf Tapferen Adler gerichtet, wie hypnotisiert folgte man seinen langsamen, ausholenden Bewegungen, bis er nicht länger ein Junge zu sein schien, sondern ein bezauberndes Geschöpf aus einem Märchen.
Anmutig sank Tapferer Adler zu guter Letzt zu Boden, wand die Arme um den Kopf. Die Melodie endete, der Große Saal verharrte in Schweigen. Kein Flüstern, kein Hüsteln war zu vernehmen. Einauge setzte die Flöte ab und schaute um sich. Wie zu keiner Regung fähig saßen die Gäste da. Und dann hob ein Raunen an, beifälliges Nicken, Verwunderung, und ihm wurde bewusst, dass er, noch ehe jemand Tapferen Adler für sich reklamierte, gut daran tat, die Atmosphäre aufzulockern.
»Himmelsgleiche Damen und Herren!«, rief er aus, »Erhabenste Durchlaucht und verehrte hohe Gebieterin, darf ich Euch nunmehr die beste Seherin des Landes vorstellen.« Ungeduldig bedeutete er Tapferem Adler, sich zurückzuziehen, und winkte Tonina nach vorn, vor das Podium des Königs.
Wahrsager gab es, nicht anders als Tänzer, überall in Mayapán, weshalb die Aufmerksamkeit der Zuschauer abermals abzudriften begann und Tonina Gefahr lief, überhaupt nicht beachtet zu werden. Erst als sie den gläsernen Becher emporhob, die Facetten das Licht reflektierten und Einauge ihn als Werkzeug der Götter höchstpersönlich deklarierte, gewann sie nach und nach das Interesse der Höflinge.
Der König warf einen neugierigen Blick auf das Objekt und gab dann einem Diener ein Zeichen, worauf der Diener Tonina den Becher abnahm und ihn einem besser gekleideten Ranghöheren übergab, der ihn wiederum einem – seinem Äußeren nach zu schließen – noch über ihm Stehenden aushändigte, von dem aus er über einen Edelmann letztendlich in den Händen des Königs landete.
Gespannt sahen alle zu, wie Seine Großherzige Güte den seltsamen Gegenstand genau betrachtete, ihn hochhob, drehte, daran klopfte und schließlich sogar mit seiner mit Jadesteckern durchbohrten Zunge daran leckte. Dann gab er den Becher an den Edelmann zurück, der ihn weiterreichte, bis er wieder bei Tonina anlangte.
Über Einauge, der als Übersetzer fungierte, ließ Tonina den Becher von einem Diener mit Wasser füllen. Sie schwenkte den Becher, schaute hinein und sagte dann laut: »Das Wasser erwählt sich … « Sie drehte sich langsam um die eigene Achse, und Einauge stellte zufrieden fest, wie aufgeregt sich die Höflinge gebärdeten, jeder darauf hoffend, das Mädchen würde ihn oder sie aufrufen.
Prinz Balám merkte, wie sich neben ihm seine Frau verkrampfte. Er wusste, dass Yaxche mit ihrer Schwäche für Wahrsager sich nichts sehnlicher wünschte, als erwählt zu werden.
Als das hoch gewachsene Mädchen jedoch auf Chacs Frau deutete und Yaxche daraufhin einen unterdrückten Fluch ausstieß, stand für Balám fest, dass heute Abend die Stimmung in seinem Haus auf Sturm stehen würde. Yaxche war nicht gut auf Paluma zu sprechen, und jetzt wurde ihr Hass zusätzlich geschürt, nachdem die Wahrsagerin die Frau eines Bürgerlichen der eines Prinzen den Vorzug gegeben hatte. Balám schüttelte den Kopf. Das nach Art der Inseln tätowierte Mädchen hatte unwissentlich einen schrecklichen Fehler
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