Das Perlenmaedchen
überschattete. Und abermals sagte sie sich: Er hasst mich, weil ich ihm das Leben gerettet habe.
»Woher habt Ihr den?«, fragte sie und streckte die Hand nach ihrem Becher aus.
Er musste daran denken, wie diese Hand Palumas Kopf gestützt hatte, als sie auf dem Schoß dieses Mädchens ruhte. Diese Hände hatten ihn auch aus den Tiefen des Wasserschachts herausgezogen, ihr Mund auf seinen gepresst …
Er gab den Becher zurück. »Wer hat den in mein Zimmer gebracht?«, wandte er sich an Einauge.
»Herr, auf die Gebeine meines Urgroßvaters schwöre ich, dass ich es nicht weiß.« Wie alle Mitglieder seines Stammes trug Einauge einen kleinen Lederbeutel mit Relikten eines Vorfahren um den Hals. Diese hier stammten von einem entfernten Großvater, besondere magische Kräfte wohnten ihnen inne.
Tonina schlug das Glas in ein Stück Stoff ein und stopfte alles in ihren bereits gepackten Reisesack.
Chac runzelte die Stirn. »Du gehst fort?«
Tonina hatte gehofft, ihm nicht mehr zu begegnen. Jetzt, da er so groß und beeindruckend in der Türöffnung stand, wurde sie von einem Wirrwarr von Gefühlen überflutet. »Ich verlasse Mayapán morgen früh«, sagte sie. Da sie seine Frage verstanden hatte, brauchte Einauge nicht zu übersetzen.
Der verstörende Gedanke tauchte wieder auf, der Chac im Festzelt des Königs zu schaffen gemacht hatte, bis Seine Großherzige Güte auf Teotihuacán zu sprechen gekommen war. Jetzt war er wieder da, wurde immer deutlicher.
Er schaute sie an, musterte die seltsamen weißen Symbole auf ihrem Gesicht. Ja, sie war es, die in jener Nacht Paluma in ihrer letzten Stunde beigestanden war. Sie war es, die ihn daran gehindert hatte, die Statue des Kukulcan zu zerschmettern, Palumas persönlichem Gott.
Und auf einmal …
Chac führte die Hand zur Brust und trat einen Schritt zurück. Ein hörbares Luftholen, ein überraschter Blick, und ohne ein weiteres Wort machte er unversehens kehrt und ging.
Der greise Priester in der dunklen und rauchgeschwängerten Kammer im Tempel des Kukulcan nickte. »Du hast recht, mein Sohn. Es ist eines unserer ältesten Gesetze, verzeichnet in unserem heiligsten Buch. Überzeuge dich selbst.« Ein knorriger Finger mit einem langen schwarzen Nagel klopfte auf die vergilbten Seiten mit den nur noch schwach zu erkennenden Abbildungen.
Es bestätigte sich, was Chac nach seiner Errettung aus dem Wasserschacht im Kalksandstein in Zweifel gezogen hatte: das uralte spirituelle Gesetz, das galt, wenn ein Leben gerettet wurde.
»Aber Seine Großherzige Güte meinte, es seien die Götter gewesen, die mir das Leben gerettet haben«, gab er zu bedenken, nicht ohne Unbehagen zu verspüren, was mit dieser neuen Enthüllung einhergehen mochte. »Und dass ihnen das Mädchen lediglich als Werkzeug diente.«
»Stimmt«, krächzte der Alte. »Aber sie diente ihnen als Werkzeug! Deshalb bist du jetzt an dieses Mädchen gebunden. Durch ein heiliges Band, das erst gelöst werden kann, wenn die Gegenleistung erfolgt ist.«
Chac rieb sich die Stirn und dachte zum ersten Mal an das Volk, von dem er abstammte und über das er so wenig wusste. Ob es wohl ebenso wie die Maya darauf versessen war, den Kosmos im Gleichgewicht zu halten?
»Ein Leben für ein anderes Leben, mein Sohn«, sagte der Priester. »Das Mädchen hat deines gerettet, jetzt musst du das ihre retten. Tust du es nicht, gerät die Welt aus dem Gleichgewicht, und das kann nicht nur dir, sondern der Stadt zum Verhängnis werden.«
»Was kann ich tun, um dies zu verhindern?«, fragte Chac gepresst. Er hoffte, der betagte heilige Mann würde eine bequeme Lösung parat haben, etwa vorschlagen, dem Mädchen Geld zu geben oder ihr einen Wunsch zu erfüllen. Eine Ersatz-»Lebensrettung«, wie sie die Ersatz-Personen bei Blutopfern leisteten.
Aber der Priester sagte: »Du musst das Gleiche tun, was sie für dich getan hat. Wenn ihr Gefahr droht oder gar der Tod, musst du ihr beistehen. Nichts anderes zählt. Und so lange du ihr nicht das Leben rettest und das Gleichgewicht wieder herstellst, seid ihr beide fest aneinander gekettet.«
An das Inselmädchen gekettet! Eine grauenhafte Vorstellung! In einem letzten verzweifelten Versuch, von dieser Verpflichtung entbunden zu werden, brachte Chac vor, dass er gedenke, sich nach Teotihuacán zu begeben, und dass er dies gemäß Seiner Großherzigen Güte allein tun müsse.
Das greise, durch den schweren gefiederten Kopfputz zusätzlich gebeugte Haupt nickte. »In der Tat.
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