Das Perlenmaedchen
Man kann eigentlich nicht von einem Opfergang sprechen, wenn ein Mann die Stadt der Götter in Begleitung bewaffneter Soldaten und umsorgt von Dienern und Sklaven aufsucht. Du musst allein gehen. Da das Mädchen aber ein Teil von dir ist, mein Sohn, ist es nicht nur gestattet, dass sie dich begleitet, sondern unbedingt erforderlich. Bis die Gegenleistung erfolgt ist.«
Chac erschrak. Tonina erinnerte ihn an die Nacht, in der Paluma gestorben war. Auch andere Gefühle rief sie in ihm wach, obwohl er keine Worte dafür hatte. Seit er das hochgewachsene Mädchen mit der honigfarbenen Haut und den Tätowierungen, wie sie auf den Inseln üblich waren, zum ersten Mal gesehen hatte, geisterte sie durch seine Gedanken wie keine Frau jemals zuvor.
Die Vorstellung, dass sie ihn begleiten sollte, war unerträglich. Und doch musste es sein. Die Götter forderten es.
Die scharfen, von unzähligen Runzeln fast verborgenen Augen des Priesters glitzerten hellwach. Mit einer Stimme, die sich wie raschelndes trocknes Laub anhörte, sagte er: »Das hast du wohl nicht bedacht, Chac. Wärst du ohne das Mädchen nach Teotihuacán gegangen, hätte dir Unheil gedroht. Und Mayapán möglicherweise auch. Denke daran: diese heilige Pflicht ist das Unterpfand dafür, dass dir das Glück weiterhin hold ist.«
Wie eigenartig die Götter zu Werke gehen, überlegte Chac. Bestimmt waren übernatürliche Kräfte wirksam gewesen, als der Becher der Prophezeiung in seinem Schlafzimmer aufgetaucht war und ihn veranlasst hatte, Tonina aufzusuchen: damit er sich seiner heiligen Pflicht erinnerte, ihr das Leben zu retten.
Er seufzte. Also gut, dann würde er sie eben mitnehmen. Was aber nicht hieß, dass sie irgendwie miteinander kommunizieren mussten. Er würde Regeln aufstellen. Und zügig ausschreiten. Als er an die von Seiner Großherzigen Güte erwähnten möglichen Gefahren unterwegs dachte, war es ihm eine Beruhigung, sich einzureden, dass er, wenn ihm die Götter in der Tat beistanden, ihr bereits nach wenigen Tagen das Leben retten und dann allein nach Teotihuacán weiterziehen konnte.
25
Die Lagune war grün und warm und einladend.
Tonina sehnte sich danach, ins Wasser zu tauchen und bis zum Horizont zu schwimmen. In die lautlose Welt des Korallenriffs hinunterzugleiten und mit bunten Fischen und Meeresgetier herumzutollen. Aber ihre Füße steckten im Sand fest, sie konnte sich nicht bewegen. Sie warf einen Blick zurück und sah ihr Dorf, sah die Bewohner die Feuer schüren, lachen und plaudern, sah Guama am Webstuhl, mit einer neuen Hängematte für Großvater beschäftigt. Tonina winkte, aber keiner wurde auf sie aufmerksam. Sie rief, aber keiner hörte sie.
»Du kannst noch nicht zurück«, raunte ihr eine Stimme zu.
Sie wandte sich wieder der Lagune zu, nur um festzustellen, dass sie stattdessen am Fuße des Schreins des Affengottes stand, den Schlingpflanzen zum Waldboden hinunterzuziehen schienen. Es war Tapferer Adler, der da gesprochen hatte. »Du hast deine Stimme wieder!«, rief Tonina überglücklich.
»Auch mein Gedächtnis«, sagte er und lächelte. »Alles ist wieder da. Ich weiß, wer ich bin, Tonina, zu welchem Volk ich gehöre, wo ich zu Hause bin. Jetzt muss ich gehen. Ich kann dich nicht länger begleiten.«
»Warte. Wer bist du? Wo bist du zu Hause? Wer sind deine Leute?«
»Mein Zuhause ist weit weg, hoch in den Bergen. Du kannst nicht mitkommen. Ich muss allein gehen. Ich danke dir, dass du mich vor den Jägern gerettet hast. Das werde ich dir niemals vergessen.«
»Warte doch! Geh nicht. Ich brauche dich, Tapferer Adler.«
»Hab keine Angst. Wir sehen uns wieder. Wenn du in höchster Not bist, werde ich da sein.«
Damit verschwand er vor ihren Augen. Hektisch suchte Tonina den Wald ab, bis sie über sich einen Adler erblickte, der sich mit prächtigen, weit ausgebreiteten Schwingen himmelwärts schraubte und skrie skrie schrie, um dann endgültig mit dem blauen Firmament zu verschmelzen.
Betrübt sah Tonina ihm nach, bis etwas durch die Bäume trudelte und zu ihren Füßen landete – die leuchtendblaue Feder, die Paluma Tapferem Adler geschenkt hatte.
Tonina fuhr aus dem Schlaf hoch. Sie lag allein auf ihrer Matte, kein Arm, der sie umschlungen hielt. Sie setzte sich auf, spähte durch die Dunkelheit nach Tapferem Adler. Aber sie sah lediglich die Umrisse der Diener und Sklaven, vernahm deren Schnarchen und Seufzer.
Neben sich auf der Matte entdeckte sie die blaue Feder und die Kette aus den Gehäusen
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