Das Perlenmaedchen
sein plumper Gang erlaubte.
Tonina war versucht, ihn zurückzurufen. Ihm Lebewohl zu sagen wäre sicherlich weniger schmerzhaft als festzustellen, dass er plötzlich nicht mehr da war. So war es bei Tapferem Adler gewesen, er hatte sie einmal mehr sich selbst überlassen. Sie dachte an Macus Vertrauensbruch – er hatte ihr Kanu angegriffen, während sie geglaubt hatte, er dächte ans Heiraten – und fragte sich, ob allein zu bleiben ihre Bestimmung sei, als sie Einauge zurückkommen hörte. Er trat ein, räusperte sich.
»Hast du etwas vergessen?«, fragte Tonina und war, als sie sich umdrehte, verblüfft, neben dem Zwerg auch Chac in der Türöffnung stehen zu sehen, angetan mit einem schlichten weißen Umhang. Sein langes Haar war glattgekämmt und hoch am Kopf zu einem Jaguarschweif gebunden, was ihn noch eindrucksvoller wirken ließ.
»Der große Chac möchte, dass ich dir etwas sage«, erklärte Einauge.
Erwartungsvoll blickte Tonina zu Chac auf. Seine Erscheinung verwirrte sie. Mit seinem Lendenschurz und dem Umhang unterschied er sich in der Kleidung nicht von einem Bauern, um Arme und Fußknöchel trug er keinerlei Schmuck mehr, auch die Ohrringe waren verschwunden. Abgesehen von den kunstvollen Tätowierungen, die ihn als Mann von hohem Rang auswiesen, hätte man ihn für einen ganz normalen Bürgerlichen halten können.
Chac wechselte mit Einauge ein paar Worte in der Maya-Sprache, worauf der Händler zu Tonina sagte: »Der große Chac bestimmt, dass du mit ihm gehst.«
Sie schaute erst den Zwerg an, dann den Helden von Mayapán. »Mit ihm gehen? Wohin?«
Ein kurzer Austausch zwischen Einauge und Chac, und dann: »Erst nach Westen und dann nach Norden. Er sagt, ihr müsst sofort aufbrechen.«
Chac wollte bereits gehen, als Tonina in Maya-Sprache rief: »Wartet! Ich verstehe das nicht.«
Chac wandte sich zu ihr um, überrascht, sie in seiner Sprache reden zu hören. Er besprach sich mit Einauge, der ihr gleich darauf ausrichtete: »Die Götter haben entschieden, dass du mit ihm gehst.«
»Die Götter! Warum denn?«
Der Zwerg seufzte auf. »Ich glaube, das hat mit ihrer Vorstellung zu tun, die Welt im Gleichgewicht zu halten. Wenn ein Maya einem anderen das Leben rettet, ist der andere seinem Retter verpflichtet, ihm das Leben zu retten. Ein Leben für ein anderes. Gleichgewicht. So steht es in ihren heiligen alten Büchern. Du hast ihm das Leben gerettet, und jetzt musst du bei ihm bleiben, bis er deines rettet.«
Tonina kam es vor, als hätten die Maya mehr Gesetze als es Sterne am Himmel gab. »Bitte richte ihm aus, dass ich meinem eigenen Weg folgen muss.«
»Ich glaube nicht, dass der große Chac damit einverstanden ist.«
Sie blitzte Einauge an. »Du erwartest doch nicht von mir, dass ich mit ihm gehe!«
»Es könnte uns durchaus gelegen kommen«, meinte Einauge. Für ihn selbst würde es bedeuten, dass er mit Tonina zusammenbleiben konnte, und sich mit dem großen Chac zu verbünden, dürfte sich als vorteilhaft erweisen.
»Mir braucht niemand das Leben zu retten«, sagte Tonina bestimmt. »Es steht ihm frei zu gehen. Ich verpflichte ihn zu gar nichts.«
Einauge übersetzte, worauf Chac Tonina entgeistert ansah.
»Hast du ihm übersetzt, was ich gesagt habe?«, fragte Tonina. »Das habe ich, aber er kann es nicht fassen, dass du ihn nicht begleitest. Er ist der große Chac und gewohnt, dass man seinen Wünschen Folge leistet. Auch dass du eigene Pläne hast, kann er sich nicht vorstellen. Für ihn bist du eine umherziehende Wahrsagerin, bereit zu allem, was sich ihr bietet. Außerdem bist du eine Frau, und offenbar hat er erwartet, dass du bereitwillig mit ihm mitgehst.«
Sie musterte Chac nachdenklich, dachte an die Nacht, in der Paluma gestorben war, und an die dramatischen Augenblicke im Wasserschacht. Augenblicke von solch enger Verbundenheit, wie kein Außenstehender dies nachvollziehen konnte. »Warum begibt er sich eigentlich auf diese Wanderung?«, fragte sie und verstand nicht, warum Chac, neuerdings ein noch größerer Held als je zuvor, Hals über Kopf einer Stadt den Rücken kehrte, die ihn wie einen Gott verehrte.
»Ich weiß nur, dass es sich um eine heilige Pilgerreise handelt, in die Stadt der Götter im Nordwesten.«
»Ich für meinen Teil muss nach Süden«, entgegnete sie.
Der Zwerg brauchte nicht zu übersetzen. Toninas Verhalten ließ eindeutig erkennen, dass sie sich weigerte, Chac zu begleiten. Er war verblüfft und bestürzt. Als er Einauge nach dem Grund
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