Das Perlenmaedchen
und er aufsteigen konnte? Die Mutter schien stolz auf ihren Sohn zu sein. Wie sie ihn jetzt anstrahlte, wie sie ihm über die Wange strich! Und als sie den anderen in der Küche sagte, dies sei ihr Junge, wurde auch sie zu einer stolzen Frau, hoch aufgerichtet und kerzengrade, den Kopf gereckt. Nichts mehr deutete auf das unscheinbare Wesen hin, das aus dem Garten der Villa gehuscht war.
Wie sehr, überlegte Tonina, hatte sie sich doch getäuscht! Als Chac jetzt unvermittelt auf die Knie sank, schlug sie, atemlos und erschüttert, den Blick nieder.
»Du hast mir befohlen, mich von dir fernzuhalten«, sagte Chac, als er vor seiner Mutter kniete. »Das musste ich dir gegen meinen Willen versprechen. Aber nun kann ich nicht länger tun, was du von mir verlangst. Ich bitte um deinen Segen. Und um deine Vergebung für den Tod meines Bruders, den ich verschuldet habe. Die ganze Stadt spricht davon, dass Balám sich umgebracht hat. Das ist mir anzulasten!«
Sie strich ihm über den Kopf. »Du hast dich nicht schuldig gemacht«, flüsterte sie. »Balám hat versucht, die Götter zu betrügen. Du selbst musst dir verzeihen.«
»Ich verlasse Mayapán und weiß nicht, wann oder ob ich je zurückkommen werde.« Er schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich muss nach Teotihuacán. Aber ohne deinen Segen kann ich nicht gehen.«
Sanft legte sie ihm die rauen Hände aufs Haupt. Tränen standen ihr in den Augen. »Du bist deiner Frau und deinem Kind verpflichtet und musst dafür sorgen, dass sie in den Himmel aufgenommen werden. Ich habe meinen Frieden mit den Göttern geschlossen. Und wenn es ihr Wille ist, werden wir uns vielleicht eines Tages wiedersehen.«
Als Tonina diese Szene mit ansah, machte sich in ihrem Herzen ein seltsamer, ungekannter Schmerz breit – die Sehnsucht nach einer Frau, die für sie weder ein Gesicht noch einen Körper hatte – die Frau, die Tonina das Leben geschenkt hatte und die sie vielleicht auch in einem winzigen Korb im Meer ausgesetzt hatte. Endlich kam Chac aus der Küche, mit versteinertem, nicht zu deutendem Gesichtsausdruck. Wortlos griff er nach seinem Reisesack. Tonina tat es ihm nach. Die Sonne stand hoch über ihnen, als sie unter dem Jubel der Bevölkerung durch das Haupttor schritten.
Ein Mann beobachtete sie, der, um nicht erkannt zu werden, seinen Kopf unter einem schmuddeligen Umhang verbarg – Prinz Balám, der erbärmlichste Mensch auf Erden. Ein Prinz ohne Königreich, der Frau und Tochter verloren hatte, kein Hab und Gut mehr besaß. Und vor allem ein Mann, der seine Ehre eingebüßt hatte.
Als er Chac und Tonina in der Menschenmenge auf dem Marktplatz sah, musste er daran denken, wie sein geliebtes Töchterchen bei der Sklavenauktion einem Fremden überantwortet worden war.
Balám taumelte und fiel auf die Knie, wie Blut rann ihm der Schweiß von der Stirn. »Die Götter sind meine Zeugen«, stieß er verbittert aus. »Chac soll dafür büßen. Das Inselmädchen soll dafür büßen. Zahlen sollen sie, zahlen und nochmals zahlen.«
ZWEITES BUCH
27
Zu spät merkte Chac, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Noch nicht einmal einen vollen Tag unterwegs, und schon bereute er seinen Entschluss, Tonina nach Quatemalán zu begleiten. Während er, auf Abstand zu ihr bedacht, seinen Weg durch den verdorrten Wald bahnte, versuchte er, das Inselmädchen hinter ihm zu ignorieren. Ihr langes Haar indes, das vom Ansatz bis zu den Spitzen mit winzigen Muscheln geschmückt war, die bei jeder ihrer Bewegungen klimperten, erinnerte ihn ständig an ihre Gegenwart. Was ihm missfiel. Maya-Frauen machten nicht durch klimperndes Haar auf sich aufmerksam.
Statt sich an Bäumen vorbeizuzwängen und mit seinem Messer den Weg freizuschlagen, wäre es ihm lieber gewesen, wenn sie über die Weiße Straße gezogen wären; dann wären sie schneller vorangekommen. Aber selbst in seinem schlichten Gewand hatte man Chac erkannt und als Glücksbringer umringt. Deshalb war er von der Zementstrecke auf die Route durch den Wald ausgewichen. Dort stieß man zunächst zwar auch immer wieder auf Bauernhöfe und Lager, wo man dem Helden zujubelte und zuwinkte, aber nach einer Weile wurde die Besiedlung zusehends dünner, und die beiden bekamen es mit unberührter Wildnis zu tun.
Die Sonne ging bereits unter, aber Chac setzte ungerührt seinen Weg fort, ohne zu ahnen, dass Tonina ebenfalls bedauerte, seiner Begleitung zugestimmt zu haben.
Er hatte von Anfang an die Führung übernommen und die Route festgelegt.
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