Das Perlenmaedchen
für ihre Weigerung fragte und erfuhr, dass sie etwas Dringendes in Quatemalán zu erledigen hatte – nach einer bestimmten Blume suchen musste –, war seine Verblüffung noch größer. Sie war also nicht nur eine umherziehende Gauklerin, die auf eine kostenlose Mahlzeit aus war? Warum war sie dann mit Tänzern und Musikanten im Großen Saal aufgetreten?
Kurz überlegte er, ob er sie zwingen sollte, mit ihm zu kommen. Nur wie? Sie zu entführen würde mit Sicherheit die Götter verärgern. Und ohne jegliche Begleitung oder Wachen würde er sie unmöglich im Auge behalten können. Er wies Einauge an, ihr nochmals auszurichten, es sei unabänderlich, dass sie mit ihm gehe, die Götter hätten es so bestimmt. Und dass es ihr, sobald sie Teotihuacán erreicht hätten, freistehe, sich auf die Suche nach ihrer Blume zu machen.
Tonina, der die schwierige Konversation durch einen Übersetzer allmählich lästig wurde, wandte sich an Einauge: »Was heißt ›Ich muss meinen eigenen Weg gehen‹ in der Sprache der Maya?« Einauge sagte es ihr, worauf sie die Worte für Chac wiederholte, der trotz ihres fehlerhaften Akzents beeindruckt war. Dennoch ließ er nicht davon ab, auf ihrer Begleitung zu bestehen.
Er drängte zum Aufbruch. »Sag ihr, dass sie, sobald wir Teotihuacán im Norden erreicht haben, nach Süden gehen kann.«
Inzwischen hatte sich Tonina die Worte eingeprägt, die Einauge benutzt hatte, und wandte sich in holpriger Maya-Sprache direkt an Chac. »Ich kann nicht mit Euch gehen. Ich muss nach Süden. Und zwar unverzüglich. Ich habe es versprochen. Und es sind meine Götter, denen ich gehorchen muss.«
»Herr«, mischte sich da Einauge ein. Er hatte das Gefühl, dass es zu keiner Einigung kommen würde, außerdem witterte er eine Gelegenheit, seine eigenen Pläne voranzutreiben. »Dürfte ich einen Vorschlag machen? Der Weg nach Quatemalán ist voller Risiken und Gefahren. Wenn Ihr Euch also dem Mädchen anschließt und dafür sorgt, dass sie heil zur südlichen Küste gelangt, werden die Götter dies bestimmt als lebensrettend werten.«
»Nein«, widersprach Chac. »Sie soll mich begleiten.«
Einauges Gedanken überschlugen sich. Wenn er Chac dazu brachte, sie zu begleiten, dann bedurfte es eines Übersetzers. Er rief sich ins Gedächtnis, was er über den Helden des Ballspiels wusste, und als ihm einfiel, dass Chac zwar nicht tief religiös war, aber diejenigen, die es waren, hoch achtete und außerdem nach einem Ehrenkodex lebte, sagte er: »Ihr sollt wissen, Herr, dass sie die Küste sehr bald erreichen muss.« Dann erzählte er von dem kranken Huracan, sprach von der wundersamen roten Blume, die ihr Volk retten würde. »Sie hat einen heiligen Eid geschworen, den einzuhalten für sie Ehrensache ist«, schloss er.
Chac starrte den Zwerg an. Das Mädchen war in einer heiligen Mission unterwegs? Er hatte angenommen, sie sei wegen einer typisch weiblichen Angelegenheit in Eile, etwa weil da eine Mutter im Sterben lag oder eine schwangere Schwester in absehbarer Zeit ein Kind bekam – die üblichen Gründe eben, weshalb sich eine Frau von einem Ort zu einem anderen begab. Eine heilige Mission war dagegen etwas völlig anderes. Und Einauge hatte von Ehrensache gesprochen.
Chac verfiel ins Grübeln. Nie würde er Palumas Freudenschrei vergessen, als dieses Mädchen ihr gesagt hatte, dass sie einen Sohn erwartete. Tonina hatte seine in sich gekehrte Frau, die, wie er wusste, insgeheim die Hoffnung aufgegeben hatte, jemals Mutter zu werden, glücklich gemacht. Jetzt wusste er mehr über Tonina, und das gab ihm zu denken.
Sie war wie er in einer heiligen Mission unterwegs. Nur lag das Ziel für den einen im Norden, für den anderen im Süden.
Chac musste zugeben, dass Zwerge nicht umsonst als weise galten. Denn was der kleine Mann da über den Weg nach Quatemalán gesagt hatte, leuchtete ein – wenn er, Chac, das Mädchen heil der Obhut ihrer eigenen Götter übergab, wäre seine Verpflichtung ihr gegenüber abgegolten. Rasch rechnete er nach, dass ihm, wenn er sie nach Quatemalán begleitete, immer noch Zeit blieb, das im Norden gelegene Teotihuacán vor der Sommersonnenwende zu erreichen.
»Also gut«, sagte er. »Ich bringe sie nach Quatemalán.«
Tonina schüttelte den Kopf und sagte, sie wolle allein dorthin.
Einauge war entsetzt. »Warum lehnst du ab?«
Das wusste Tonina selbst nicht, und es war ihr ganz unmöglich, es diesen beiden zu erklären. Es hatte mit Chac zu tun, mit ihrer Angst vor
Weitere Kostenlose Bücher