Das Perlenmaedchen
einfach die Matte entrollt und die Baumwolldecke ausgebreitet.
Er beobachtete, wie sie auf den Baum kletterte und sich geschickt in das breite Band aus Palmfasern gleiten ließ, ihm den Rücken zukehrte und einen baumwollenen Umhang über sich zog. Nicht einmal zu einem »Gute Nacht« reichte es.
Müdigkeit überfiel ihn. Er sollte ebenfalls versuchen zu schlafen, damit sie in aller Frühe aufbrechen konnten. Er breitete seine Matte aus und legte sich nieder, aber die Steinchen auf dem unebenen Waldboden machten ihm zu schaffen. Zudem wurde es nach und nach kühler, und sein Feuer erlosch. Paluma hatte stets dafür gesorgt, dass er es bequem hatte. Mit so leichter Hand hatte sie den Haushalt geführt, dass er den Aufwand, der dahintersteckte, gar nicht bemerkt hatte. Als Athlet war Chac zwar an Härten auf dem Spielfeld gewöhnt, aber auf Annehmlichkeiten hatte er nie verzichten müssen.
Er spähte hinüber zu der Gestalt in der hamac, nahm im Licht des Lagerfeuers die Rundungen wahr und wie die hamac sich ihren Formen anpasste. Ihr Haar hing seitlich herunter. Als sie im Schlaf seufzte und die hamac sich daraufhin ganz leicht bewegte, überkam Chac unwillkürlich ein Verlangen nach diesem Mädchen. Er erschrak und war gleichzeitig beschämt. Wie konnte er das Andenken an Paluma entehren! Aber, so beschwichtigte er sich, die Reaktion seines Körpers beim Anblick eines Mädchens im heiratsfähigen Alter hatte natürlich nichts damit zu tun, was in seinem Inneren vorging. Er drehte sich zur Seite, kehrte dem seltsam verführerischen Wesen, das da zwischen den Bäumen schwebte, den Rücken zu und schloss die Augen.
Während er darauf wartete, endlich einzuschlafen, sagte er sich, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lange mit Tonina zusammenbleiben würde. Das Gebiet zwischen Mayapán und Uxmal dürfte mühelos zu durchqueren sein, stand es doch unter dem Schutz der beiden Könige. Sobald sie allerdings über die Halbinsel in südlicher Richtung, Quatemalán entgegen, zogen, betraten sie eine gesetzlose Region, in der sich zweifellos genügend Gelegenheit bot, das Leben des Mädchens zu retten. Und dann wäre er von Tonina erlöst.
In Vorfreude darauf, sie nur noch wenige Tage um sich zu haben, betete Chac zur Göttin des Mondes, der Beschützerin der Ballspieler, und schlief endlich ein.
Tonina hingegen fand keine Ruhe. Das Bild von Chac und seiner Mutter in der königlichen Küche tauchte immer wieder vor ihr auf. Es schürte die Sehnsucht nach ihren eigenen Eltern. Gleichzeitig erschreckte sie dieser Gedanke, und sie fragte sich bang, ob sie, sobald sie die rote Blume gefunden hatte, der Versuchung widerstehen würde, hierzubleiben und ihr Volk zu suchen, anstatt so schnell wie möglich auf die Perleninsel zurückzukehren. Wenn Aussicht bestand, ihre Mutter und ihren Vater aufzuspüren, würde sie dann stark genug sein, nach Hause zu fahren, zu Guama und Huracan?
Irgendwann schlief sie dann doch ein und träumte von Tapferem Adler. Er war zurückgekehrt, und sie rannte ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Sie schrak abrupt auf, als sie jemanden rufen hörte, meinte noch zu träumen, bis sie aus ihrer Hängematte schaute und ihr Blick auf Chac fiel, der, in seinen Umhang gehüllt, auf seiner Matte lag und im Schlaf verzweifelt nach Paluma verlangte. Zu Toninas Überraschung stieß er auch Baláms Namen aus.
Tonina wagte sich nicht zu rühren. Während Chac sich nach und nach beruhigte, lauschte Tonina den merkwürdigen Lauten in den Bäumen. Bei dem Gedanken an all die wilden Tiere, die im Wald lebten, und an die Gespenster und Dämonen, die nachts umhergeisterten, bekam sie eine Gänsehaut. Sie bat Lokono und ihre Delphingeister um Schutz und hoffte, dass der Rauch ihres schwelenden Lagerfeuers ausreichte, um Bösewichte fernzuhalten.
28
Es gab kein Wasser, um sich zu waschen; großblättrige Pflanzen, vom Tau der Nacht bedeckt, mussten herhalten, um Schmutz und Schweiß zu entfernen, und zum Zähneputzen eignete sich nach Minze schmeckendes chicle, der gummiartige Saft des Breiapfelbaums. Als anschließend Chac Morgengebete an die Mondgöttin und Kukulcán richtete, beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie Tonina sich mit Kokosmilch das Gesicht bemalte und damit einmal mehr ihre Züge verbarg.
Nach einem wortlosen Frühstück brachen sie auf. Chac schlug eine Schneise durch das Dickicht. Tonina, die ihm folgte, hatte ständig seinen nackten Rücken vor Augen – die ausgeprägten Muskeln, die
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