Das Perlenmaedchen
Situation war unerträglich! Dass sie ständig um ihn herum war, verursachte ihm zusehends Unbehagen. Ständig erinnerte sie ihn an die Nacht, in der Paluma gestorben war, an sein Versäumnis, an seine Schuld. Er wollte Paluma in ihren glücklichen Stunden in Erinnerung behalten, daran denken, wie sie gelacht, wie sie den Nacken gebeugt hatte, wenn sie konzentriert über einem Federarmband gesessen hatte. Nicht wie er sie gefunden hatte, tot, in einer Blutlache.
Er war froh, dass er und das Mädchen nicht miteinander reden konnten, froh, dass der Zwerg nicht mitgekommen war. Etwas an Tonina schürte Chacs Befürchtung, dass, sollte sie sich verständlich machen können, sein Herz und seine Seele in Gefahr wären. Welchen Zauber sie auf ihn ausübte, vermochte er nicht zu sagen, aber seit er sie zum ersten Mal erblickt hatte, wusste er, dass Tonina kein Mädchen wie alle anderen war.
Er blieb stehen und schaute auf sie herab. Noch immer konnte er ihr Gesicht nicht genau erkennen, weil die in Weiß aufgemalten Symbole auf ihren Wangen, ihrer Stirn und dem Kinn dies nicht zuließen. Außerdem fiel ihr häufig ihr widerspenstiges langes Haar ins Gesicht. Das störte ihn. Maya-Frauen wanden ihr Haar zu dem beliebten Jaguarschwanz, der so fest mit einem Tuch umwickelt war, dass keine Strähne hervorsah. Das verlieh ihnen seiner Meinung nach ein gesittetes Äußeres.
»Wir müssen schlafen«, sagte er in der Maya-Sprache, und Tonina verstand.
Er versuchte, nicht hinzusehen, als sie die Enden ihrer hamac an jeweils einem Baum befestigte, aber der Anblick einer so schlanken jungen Frau mit so langen Gliedmaßen war für ihn etwas Ungewohntes, vor allem als sie sich, auf den Zehenspitzen stehend, reckte, um die Schnüre zu befestigen. Ihr Oberteil verschob sich nach oben, ließ darunter einen eigenartigen Gürtel erkennen. Einen Gürtel, der verziert war mit Gehäusen der Kaurischnecke. Da keine Maya so etwas trug, fragte sich Chac, was er wohl zu bedeuten habe.
Endlich hatte Tonina es sich in ihrer Bettschaukel bequem gemacht. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Chac hielt sie wach. An die rote Blume hatte sie den ganzen Tag lang nicht gedacht. Chac lenkte sie ab, ohne dass sie wusste, warum. Nur eins stand fest: So ging es nicht weiter. Ich werde ihn bei der erstbesten Gelegenheit verlassen, beschloss sie. Ich werde im Wald verschwinden, und er wird mich nicht mehr finden …
Erneut drehte sich Chac auf seiner Schlafmatte um. Immer wieder musste er zu dem Mädchen da oben schauen. Wie sehr das Baumbett aus Palmfasern sie doch veränderte! Schmalhüftig und breitschultrig, wenn sie marschierte, aber sobald sie in der hamac lag, wurde ihr Körper kurvenreicher, weicher, weiblicher.
Morgen, so sagte er sich, morgen würde ihm gewiss eine Lösung einfallen. Er nickte ungeachtet des beißenden Rauchgeruchs ein, der durch die Bäume drang.
Jäh fuhren beide aus dem Schlaf hoch. Rauchschwaden überall! Das musste ein Waldbrand sein. Aber warum erglühte der Himmel nicht unter dem Flammenschein? Weshalb hetzte kein Wild an ihnen vorbei?
Chac ergriff seinen Speer und den Knüppel und gab Tonina zu verstehen, dass er der Sache auf den Grund gehen wollte. Ihr Messer in der Hand, folgte sie ihm schweigend durch den Rauch und den dichten Wald. Als sie zu einer Lichtung gelangten, blieben sie wie angewurzelt stehen. Auf das, was sie erblickten, waren sie nicht vorbereitet.
29
»Die Götter seien gesegnet!«, rief Einauge ihnen entgegen und winkte mit seinen kurzen Armen. Chac und Tonina starrten verblüfft auf das große Lager. Wie war es möglich, dass sich in ihrer Nähe unbemerkt so viele Menschen aufhielten?
»Ich habe sie beschworen, leise zu sein«, erklärte Einauge und kam in dem ihm eigenen schwankenden Gang, der Toninas Herz aufjauchzen ließ, auf sie zu. Er hatte ihr so gefehlt! »Ich habe ihnen eingeschärft, Euch auf Eurer heiligen Reise nicht zu belästigen.«
»Was hat das alles zu bedeuten?«, herrschte Chac ihn an. Er blickte fassungslos auf die vielen Menschen, die zwischen den Bäumen und dort, wo Lagerfeuer brannten, herumliefen. Auch Ältere und Kinder waren darunter, mit Hunden und Truthähnen, die im Sand scharrten.
»Herr«, hob Einauge jetzt an. »Ich hatte die Absicht, allein zu kommen, aber die königliche h’meen bat darum, mit mir zu reisen, was ich ihr nicht abschlagen konnte. Und dann verbreitete sich mein Vorhaben in Windeseile, Ihr wisst ja, wie es in einer Stadt zugeht, Herr, und
Weitere Kostenlose Bücher