Das Perlenmaedchen
sich an Chac gerächt hatte, wollte er sich am nächstbesten Baum erhängen.
In Mayapán konnte er sich nicht mehr blicken lassen. Seine Schulden waren unabsehbar hoch, seine Gläubiger auf ihr Geld bedacht. Sogar eine Belohnung war auf seinen Kopf ausgesetzt.
Ebenso wenig konnte Balám sich auf die Suche nach seiner Tochter machen. Wenn er sich bei Reisenden und Händlern nach dem Aufenthaltsort von Ziyal erkundigte, würde sich schnell herumsprechen, dass er noch lebte, und dann würde man ihn unter Schmähungen als Sklaven veräußern.
Alles, was ihm geblieben war, war Rache.
Er hielt die Luft an, um den vergifteten Pfeil abzuschießen, hielt jedoch inne, als er sah, dass das Inselmädchen auf Chac zuging und etwas zu ihm sagte. Chac wies sie mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. Anstatt zu gehorchen, beugte sich das Mädchen näher zu ihm und sprach etwas lauter. Worauf Chac, zu Baláms Überraschung, heftig reagierte. Die Folge war, dass Tonina sich aufrichtete, ihn missbilligend ansah und wegging.
Balám kniff die Augen zusammen. Seines Wissens hatte sich Chac einem anderen gegenüber noch nie derart ruppig verhalten. Regelrecht unglücklich wirkte er. Und da kam Balám eine Idee.
Er zog sich zurück unter die Bäume und in das grüne Laub. Nein, überlegte er, es hatte keinen Sinn, Chac jetzt zu töten. Einem Mann das Leben zu nehmen, an dem er gar nicht mehr hängt, ist unbefriedigend. Er soll weiterleben. Hoffnung schöpfen. Glauben, dass er die Stadt der Götter erreicht und dort Trost findet. Und erst wenn mein einstiger Bruder anfängt, das Leben wieder als lebenswert zu erachten, was irgendwann der Fall sein wird, werde ich ihm dieses lebenswerte Leben wegnehmen.
Was die Wahrsagerin anbelangte – wie anders wäre alles gekommen, wenn sie an jenem Abend im Großen Saal nicht Paluma ausersehen hätte, sondern Baláms Frau! Sie hätte Yaxche aus ihrem Wunderbecher geweissagt, hätte das schreckliche Schicksal vorausgesehen, das sie erwartete, und dann hätte er, Balám, noch eingreifen können!
Für die Wahrsagerin, beschloss Balám, als er sich noch weiter hinter die Bäume verzog, würde er sich eine ganz besondere Strafe einfallen lassen.
Beklommen blickte Tonina zu dem Lager, in dem es drunter und drüber ging.
Es waren nicht die abenteuerlustigen jungen Männer mit ihren Waffen, ihrer Kriegsbemalung und ihrem Siegesgeschrei, wenn ihnen ein Tier in die Falle ging, die sie beunruhigten. Auch nicht die älteren Krieger, die ausgedient hatten, sich jetzt nutzlos vorkamen und Geschichten von blutrünstigen Eroberungen erzählten. Auch nicht die besessenen Anhänger des Ballspiels samt ihrer Frauen und Kinder. Wer Tonina Kopfzerbrechen bereitete, waren die Kranken, die Verkrüppelten und die Lahmen, die Tauben und die Blinden, die unfruchtbaren Frauen und impotenten Männer.
Sie, die weder von Gier noch Ehrgeiz noch Machthunger, sondern von Verzweiflung getrieben wurden, stellten ein Risiko dar.
Von ihrem Lagerfeuer aus, in dessen Glut ein kleiner Kürbis garte, beobachtete sie das riesige Lager, das sich über die Lichtung und bis unter die Bäume erstreckte, und in dem so viele Feuer brannten, so viele Menschen sich tummelten. Ein lärmendes, rauflustiges Pack, das die Nacht mit Geschrei und Rauch erfüllte.
Fünf Tage waren vergangen, seit sie Uxmal verlassen hatten, und geschlagene dreißig Tage, seit Tonina von der Perleninsel aufgebrochen war. Jetzt waren sie Richtung Süden unterwegs, strebten geradewegs auf Tikal am Rande des Regenwalds zu, dorthin, wo Tonina und Chac nach Osten abzubiegen gedachten, um auf die Küste von Quatemalán zuzuhalten.
Es dauerte einfach zu lange.
Aus der kleinen Schar begeisterter Anhänger sowie derer, die sich nach Glück sehnten und nach einem anderen Leben, war ein unbeherrschbarer Haufen geworden. Seit in Uxmal die Pilgerreise von Chac bekannt geworden war – von Chac, dem Helden der Dreizehn Spiele, dem Mann, der den Opfertod im Schacht überlebt hatte! –, ließ man ihn nicht in Ruhe. Und als es dann noch hieß, dass eine Wahrsagerin mit einem wundersamen Becher ihn begleiten würde, weil sie auf der Suche nach einer Blume sei, die sämtliche Krankheiten heile, waren weitere Hoffende dazugestoßen – ein bunt zusammengewürfelter Haufen ohne Anführer.
Tonina hatte Einauge die Aufsicht angetragen, aber dem Zwerg ging es nur darum, sich mit Frauen zu amüsieren und sich von den Leuten dafür, dass sie mitkommen durften, entlohnen zu lassen.
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