Das Perlenmaedchen
zufriedenstellen. « Um zu verdeutlichen, was er meinte, deutete er mit dem Kopf zu Tonina.
Chac seufzte. Einauge hatte recht. Wenn er Tonina heil zur südlichen Küste brachte, hätte er ihr gleichsam das Leben gerettet. Und mit all diesen Leuten hier, die vorhatten, sie durch das gefahrvolle Land jenseits von Uxmal zu begleiten, war dieses Ziel so gut wie gesichert.
»Einverstanden«, sagte er und ging zu seinem eigenen Lager zurück.
Tonina blieb noch bei Einauge stehen. »Ich freue mich so, dich wiederzusehen«, sagte sie, beugte sich zu ihm hinunter und drückte ihm einen feuchten, zärtlichen Kuss auf die Wange. Als sie noch hinzufügte: »Ich brauche dich« und ihr langes Haar seine Schulter streifte, vollführte Einauges Herz einen Freudensprung bis hinauf zu den Sternen.
»Du musst mich in der Maya-Sprache unterrichten«, sagte sie. »Und zwar sofort. Ich kann nicht mit Chac zusammenbleiben. Ich muss allein weiter.«
Einauge nickte. Es schmerzte zwar, dass sie sich nicht allein darüber freute, ihn wiederzusehen, sondern noch einen weiteren Grund hatte, aber er ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. »Ich werde dir alles beibringen, was du wissen willst«, sagte er, nicht nur weil sie ihn geküsst hatte, sondern weil Einauge der Taíno-Händler, der kleinste Mann weit und breit, sich soeben in die größte Frau verliebt hatte.
30
In seinem Versteck zwischen den Bäumen führte Balám das Blasrohr an die Lippen und visierte sein Ziel an.
Im Lager auf der Lichtung herrschte ein großes Durcheinander, es wurde gezankt, Kinder rannten kreuz und quer, Männer verstrickten sich in hitzige Glücksspiele, Frauen plauderten während sie kochten und Babys stillten. Balám konnte also sicher sein, Chac, der allein am äußersten Rande des Lagers hockte, mit einem einzigen Treffer zur Strecke zu bringen. Man würde es erst bemerken, wenn es bereits zu spät war.
Der vergiftete Pfeil führte nicht sofort den Tod herbei. Das Curare an der Spitze rief eine Lähmung hervor. Chac würde also zusammenbrechen und ganz langsam sterben. Erst würden seine Gliedmaßen den Dienst versagen. Er würde bei Bewusstsein bleiben, um Atem ringen bis zum Schluss, wenn das Curare seine Lungentätigkeit vollends blockierte. Hilflos würde Chac daliegen, spüren, wie sein Herz flatterte, und sich bewusst werden, dass er nie nach Teotihuacán kommen würde.
Dann werde ich mich über ihn beugen, so Baláms zynische Überlegung, und mich an der Angst in seinen Augen weiden und daran, wie das Leben aus seinem Körper flieht. Ich werde mich über ihn beugen und ihm zuflüstern: Das ist für Yaxche und Ziyal.
Balám war Chac von Mayapán aus gefolgt, war unbemerkt Zeuge geworden, wie der Zwerg und seine groteske Meute sich auf die Spuren von Chac und dem Inselmädchen begeben hatten. Er war ihnen nach Uxmal gefolgt, hatte gewartet, bis sie sich ausgeruht und mit Proviant versorgt und noch mehr Narren in ihren Zug aufgenommen hatten, und anschließend beschattete er sie auf der Weißen Straße.
Niemand wusste von seiner Anwesenheit. Niemand wusste, dass er den Tod brachte. Wie die Menge auf den Mord reagieren würde, war ihm egal. Vielleicht würden sie ihn ergreifen und ihm die Gliedmaßen einzeln ausreißen. Es war ihm egal. Er hatte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte.
In Uxmal hatte er im Schutze der Nacht den Stammsitz seiner Familie aufgesucht, eine Villa unweit der Pyramide der Wahrsager. Da seine Familie bereits von seiner Schande und seinem Absturz erfahren hatte, hatte sein Vater Anweisung gegeben, ihm die Tür zu weisen. Deshalb hatte sich Balám im dunklen Garten versteckt. Wie erwartet, war seine Mutter erschienen, hatte ihm etwas zu essen und Wasser gebracht und ihn in die Arme geschlossen. Ohne Wissen des Vaters war der Garten drei Nächte lang seine Zuflucht gewesen, und als er sich in die Stadt gewagt und auf dem Marktplatz mitbekommen hatte, wie Chac und das Mädchen Vorbereitungen für den Aufbruch trafen, hatte Balám seiner Mutter einen Abschiedskuss gegeben und war ebenfalls losgezogen. Nicht mit leeren Händen. Die Mutter hatte ihm Jade sowie Kakaobohnen, Waffen und frische Kleidung mitgegeben und vier Neffen befohlen, ihn zu begleiten, vier gelangweilte junge Männer, die freudig die Gelegenheit ergriffen, Abenteuer zu erleben, und sich nicht um Schande oder Unglück scherten. Balám hatte seiner Mutter versprochen, zurückzukommen, aber dieses Versprechen gedachte er nicht einzuhalten. Sobald er
Weitere Kostenlose Bücher