Das Perlenmaedchen
Gegenwärtig saß der Taíno-Händler an einem Feuer am anderen Ende des Lagers, in Gesellschaft eines fülligen Maya-Mädchens, der Schwester eines der Neun Brüder. Schon erstaunlich, befand Tonina, wie leicht der Zwerg immer wieder eine Frau fand, die für ihn kochte und ihn nachts wärmte.
Als sie ihn gefragt hatte, ob nicht Chac diesen gesetzlosen Haufen zur Ordnung rufen könnte, hatte Einauge erwidert: »Chac schert sich nicht um diese Leute. Er zieht sich immer mehr in seine eigene Welt zurück. Vergiss nicht, Mädchen, er hat nicht nur seine Frau und sein Kind verloren, sondern auch seinen besten Freund. Er und Balám waren wie Brüder. Chac verdankt Balám alles – seinen Wohlstand, seinen Ruhm, sogar Paluma. Man erzählt sich, dass Chac als kleiner Junge von einer Gruppe Gleichaltriger angepöbelt wurde – steinigen wollten sie ihn! –, als Balám hinzu kam, ihm das Leben rettete, sein Freund wurde und dann dafür sorgte, dass Chac in die angesehene Akademie der Ballspieler aufgenommen wurde. Jetzt trägt Chac schwer daran, für Baláms Ruin und möglicherweise seinen Tod verantwortlich zu sein.«
»Aber das hat Balám sich doch selbst eingebrockt«, hatte Tonina entgegnet.
»Das tut nichts zur Sache. Chac lebt nach einem strengen Ehrenkodex, er hat das Gefühl, einen Bruder verraten und damit gegen diesen Kodex verstoßen zu haben. Und jetzt ist der Bruder tot, hat sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erhängt, das einzig Ehrenhafte, was ihm zu tun geblieben ist.«
Tonina schaute jetzt hinüber zu Chac, der am Rande des Lagers saß, vornübergebeugt und allein. Vorhin hatte sie ihn gebeten, diesen gesetzlosen Haufen zur Ordnung zu rufen. Er hatte abgelehnt. »Es steht mir nicht zu, ihnen zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben.«
Tonina konnte sich nicht vorstellen, wie abgrundtief verzweifelt er war. Sie wünschte sich nur, dass er in Ruhe trauern konnte. Und deshalb musste dieses ungehobelte Pack zur Ordnung gerufen werden.
Am schlimmsten gebärdeten sie sich, wenn es ums Essen ging. Keiner gab etwas ab. Jeder hortete, was er ergreifen konnte.
Wenn sie sich derart ums Essen balgen, wie werden sie sich erst gebärden, wenn die rote Blume gefunden ist? Sie werden über den Busch oder Baum herfallen und ihn verwüsten, wie sie alles auf ihrem Weg verwüsten; sie werden in ihrem Rausch die Blüten zerstören und nichts für die Menschen auf der Perleninsel übrig lassen.
Es wurde zusehends dunkler. Im Lager legte man sich schlafen, durch die raucherfüllte Luft zogen das Murmeln von Gebeten, Schnarchlaute und das Gestöhn sexueller Begierde. Tonina nahm ihr Gepäck mit hoch in ihre hamac ; es war ihr nicht entgangen, wie man ihre Habe beäugt und sich nach dem durchsichtigen Becher der Prophezeiung erkundigt hatte. Nachdem sie zu Lokono, dem Geist des Alls, und ihren Delphingeistern gebetet hatte, überdachte sie nochmals die schwierige Entscheidung, die es zu treffen galt. Huracan und ihrem Volk zuliebe musste sie Chac und diese wilde Horde verlassen.
»Geh heute Nacht nicht aus dem Haus«, bat Paluma. »Lass mich nicht allein, denn ich habe schreckliche Vorahnungen.«
»Ich muss Balám suchen.«
»Liebster, du bist nicht verantwortlich für das, was er getan hat. Er selbst hatte sich durch das Glückspiel derart verschuldet, dass es keine Rettung mehr für ihn gab.«
»Wenn ich nicht diesen letzten Wurf durch den Reifen … «
»Du hast richtig gehandelt. So, wie die Götter es wollten. Du hast dich ehrenwert verhalten.«
Und dann war Chac in die Nacht hinausgegangen, durch dunkle Wege und Gassen, auf der Suche nach seinem Freund, den er Bruder nannte. Aber Balám war nirgendwo zu entdecken. Hatte er seine Drohung wahrgemacht und sich erhängt?
Zurück in der Villa … Paluma auf dem Boden, ihr Kopf im Schoß der Wahrsagerin … die Blutlache auf den Fliesen … »Sie war sofort tot«, hatte das Inselmädchen gesagt.
Mit einem erstickten Schrei wachte Chac auf. Er schwitzte, sein Umhang, mit dem er sich zugedeckt hatte, war feucht. Er setzte sich auf und schaute nach allen Seiten. Keiner hatte ihn gehört. Das Lager schlief weiter. In den Ästen über sich machte er mehrere hamacs aus , aber die von Tonina fehlte. Ebenso wie ihr Reisesack.
Der dunkle Wald wirkte schon an sich bedrohlich. Bestimmt lauerten hier auch noch alle möglichen Gefahren. Aber um Chac und der Horde von Menschen zu entfliehen, musste Tonina einfach losgehen. Frühmorgens, wenn alle erwachten
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