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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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und merkten, dass sie nicht da war, wäre sie dann so weit weg, dass man sie nicht mehr aufspüren konnte.
    Auf dem Weg durch Uxmal hatte sie Einauge unaufhörlich ausgefragt. »Wie heißt dies in der Maya-Sprache? Und wie das?«, ohne sich abschrecken zu lassen, wenn Einauge im Verlauf des endlosen Unterrichts gelegentlich gereizt reagiert hatte. Der Schlüssel zur Unabhängigkeit war nun einmal die Beherrschung der Sprache, und Tonina war froh, sich durchgesetzt zu haben. Als sie jetzt durch den dichten Wald hastete, wusste sie, dass ihr frisch erworbenes Wissen ihr in jedem Fall zugute kommen würde.
    Sie hatte das im Schlummer liegende Lager verlassen und war zunächst nach Norden gegangen, um dann abzubiegen und auf die Küste zuzuhalten. Als sie, ihr Messer einsatzbereit in der Hand, zügig ausschritt, vorbei an Bäumen und Büschen, dachte sie an Guama und Huracan, stellte sich vor, wie sie auf dem Felsvorsprung über der Lagune standen, den Blick nach Westen gerichtet, in der Hoffnung, ihr Kanu zu erspähen. Ob sie inzwischen von Macus Ränkespiel wussten? Hatte jemand den Kampf auf hoher See überlebt und von der Tragödie berichtet? Vielleicht nahmen sie an, dass Tonina tot war. Nein, Guama würde sie nicht aufgeben, und Tonina würde ihre Großmutter nicht enttäuschen. Die rote Blume war mit Sicherheit in Reichweite, wuchs auf den gezackten Felsen entlang der Küste von Quatemalán. Sie würde die Blüten abpflücken und die wenigen ihr verbliebenen Perlen dazu verwenden, ein Kanu zu erstehen und nach Hause zu rudern.
    Unversehens hielt sie inne, lauschte mit angehaltenem Atem in die Nacht. Was hatte sie bewogen stehenzubleiben?
    Sie blickte zurück, durch die Bäume. Chac?
    Wie er wohl reagierte, wenn er ihre Abwesenheit bemerkte? Würde er sie suchen? Oder würde er die Gelegenheit nutzen und sofort nach Norden ziehen, nach Teotihuacán?
    Tonina wollte ihren Weg fortsetzen. Aber es ging nicht. Sie war wie gelähmt.
    Geh schon!, rief sie sich leise zu. Steh nicht hier rum. Beeil dich!
    Aber ihre Füße gehorchten ihr nicht. Sie spähte in die Dunkelheit, vernahm die Rufe der Nachtvögel, dachte an Chac, der möglicherweise gerade aus dem Schlaf hochfuhr, feststellte, dass sie weg war, und sich auf die Suche nach ihr machte.
    Tonina konnte sich nicht erklären, weshalb sie wie angewurzelt dastand, sie wusste nur, dass in ihrem Kopf Gedanken und Fragen und Überlegungen herumschwirrten, die ihr bislang fremd gewesen waren. Entschlüsse zu fassen war ihr immer leichtgefallen: Wenn die Austernbänke vom vorigen Jahr abgeerntet waren, dann schwamm sie eben weiter raus. Als sie erfahren hatte, dass Huracans Leben von einer seltenen Blume abhing, hatte sie nicht lange überlegen müssen, um zu sagen: »Ich mache mich auf die Suche danach.«
    Aber jetzt fühlte sie sich hin- und hergerissen. Sie verstand nicht, was es mit Chac auf sich hatte und was sie davon abhielt, sich von ihm zu befreien. Sie waren sich fremd – und wiederum auch nicht. Auf dem Marktplatz, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte und ihre Blicke sich kreuzten, war eine seltsame, unerklärliche Verbindung zwischen ihnen entstanden.
    Überrascht stellte sie fest, dass sie zurück zum Lager wollte. Dabei sollte sie doch ihr Versprechen Guama und Huracan gegenüber einlösen!
    Sie spürte ein Prickeln im Nacken. Sie wurde beobachtet.
    Von den Augen eines Menschen.
    Verärgert über ihr Zögern, wollte sie weglaufen. Da tauchte unversehens Chac zwischen den Bäumen auf, das Gesicht dunkel vor Zorn. Er packte sie bei den Schultern und fuhr sie an, was in sie gefahren sei.
    Sie war kaum in der Lage zu sprechen, seine Nähe raubte ihr den Atem. »Woher wusstest du, wo … «
    »Haarlos, der Anführer der Neun Brüder, die die Nachtwache übernommen haben, hat gesehen, wie du dich aus dem Lager geschlichen hast. Warum willst du weg? Die Götter haben verfügt, dass wir zusammenbleiben.«
    »Deine Götter, nicht meine!«, entrang es sich ihr. Lass mich gehen. Ich entbinde dich von deiner Verpflichtung mir gegenüber. Aber die Worte blieben ihr im Halse stecken.
    Chacs Finger gruben sich in ihre Arme. Plötzlich wusste er nicht, was er tun sollte. In den Kokosnussduft ihrer Gesichtsbemalung mischte sich der von Lorbeer und Minze. Weil es kein Gewässer gab, in dem sie hätte baden können, stand Tonina jeden Morgen ganz früh auf, wenn die Pflanzen noch von der Nacht feucht waren, und erfrischte sich mit Tau, um sich anschließend Arme und Gesicht zu

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