Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll
Segeln.
»Kommen Sie!«, rief Eléni.
Sie liefen auf den Parthenón zu. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Transparent knatternd herunterrollte.
OCCUPY THE SYSTEM!
Schwarze Lettern auf neongelbem Grund. Das Transparent reichte vom Giebel des Tempels bis zur Erde und verdeckte die gesamte Längsseite. Jubelrufe. Die Kletterer seilten sich an den Säulen herab, wurden von anderen Aktivisten mit Applaus begrüßt. Sektkorken knallten in die sommerheiße Luft.
»Entschuldigen Sie mich!«
Eléni eilte auf die Aktivisten zu, wie ein schwarzer Ball auf Pumps, der über den Marmor schwebte. Begrüßung, Umarmung, Wangenküsse. Maria befühlte den Stoff des Transparents: Es war nicht aus Plastik oder Baumwolle, sondern aus einem feinen, luftdurchlässigen Gewebe. Musste es bei der Größe wohl sein, sonst hätte es die erste Windböe aus den Verankerungen gerissen. Die neongelbe, glänzende Oberfläche reflektierte das Sonnenlicht, die Luft schien neongelb zu flirren. Das Transparent war bestimmt nicht billig gewesen.
Die Akrópolis ohne Touristengesocks. Sie fragte sich, wann die Polizei anrücken und die Aktion beenden würde. Sie ging weiter, auf einem Pfad oberhalb des Diónysos-Theaters. Am Himmel näherte sich ein Hubschrauber.
OCCUPY THE SYSTEM!
Das Transparent würde es in die Abendnachrichten schaffen, überall in Europa. Und die Deutschen würden vorm Fernseher sitzen, bei Bier und Schnittchen, den Kopf schütteln und sagen: »Die Griechen! Und alles von unserem Geld!«
Sie umrundete den Parthenón. Grillen zirpten, eine Katze schreckte aus dem Schatten von Bauschutt hoch, als Maria näher kam. Sie stand, informierte ein Schild, im Heiligtum des Zeus Poliéus. Auf dem Fundament eines kleinen Tempels saß ein Mann. Er hatte die Augen geschlossen, sein Kopf lehnte an einer Säule. Er hielt sein gut geschnittenes, gebräuntes Gesicht in die Sonne. Die grauen Haare reichten bis auf die Schultern. Er trug ein schwarzes T-Shirt und ausgebleichte Jeans. Seine nackten Füße steckten in schwarzen Wildleder-Loafern. Maria schätzte ihn auf Anfang vierzig. Möglich, er war älter und hatte sich gut gehalten. Unter seinem T-Shirt zeichneten sich gut trainierte Brustmuskeln und Bizeps ab. Er erinnerte an ein attraktiv gereiftes Model aus einer Zigarettenwerbung. Neben ihm, auf einem Marmorblock, vibrierte das flachste Telefon, das Maria je gesehen hatte. Er schlug kurz die Augen auf, wischte mit der Fingerspitze über das Display. Er schmunzelte und lehnte den Kopf wieder zurück.
»Psst!«
Eléni winkte Maria heran. Sie stand auf dem Plankenweg, neben einem Zementmischer.
»Die Chinesen steigen in ihre Reisebusse. Sobald sie weg sind, stürmt die Polizei die Barrikaden.«
Sie gingen Richtung Propýläen, vorbei an Athená-Tempel und Erechtheíon.
»Haben Sie sich mein Angebot überlegt?«, fragte Eléni.
»Sie haben mir kein Angebot gemacht.«
»Ich will Ihre Geschichte. Ich will sie exklusiv. Sie reden mit niemandem außer mir. Will jemand Informationen, schweigen Sie. Ruft Sie jemand an, legen Sie auf.«
»Ich habe keine Geschichte.«
»Sie werden eine haben.«
»Ich bin Touristin. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Das glauben Sie im Ernst? Zufall? Dass Sie in Athen sind, ist Zufall?«
»Kein Zufall, aber –«
»Jemand spielt mit Ihnen, Frau Brecht. Jemand schreibt Ihre Geschichte. Ich würde nicht wetten, dass diese Geschichte für Sie gut ausgeht.«
»Und welche Geschichte schreiben Sie?«
»Eine Geschichte, die größer ist als alles, was Sie sich vorstellen können. Ich kenne Hintergründe, die Sie nicht einmal ahnen. Aber ich stehe unter Druck. Nennen Sie es Deadline.«
Von unten hörten sie Megaphonrufe und einen dumpfen Knall.
»Was ist das?«, fragte Maria.
»Tränengaswerfer. Wenn Sie noch ein paar Tempel besichtigen wollen, tun Sie’s jetzt.«
Sie gingen schneller. Maria blickte sich um. Das grauhaarige Model lehnte immer noch an der Säule und rührte sich nicht.
»Woher sind Sie so gut über mich informiert?«, fragte Maria. »Dass ich in Athen bin, in welchem Hotel ich wohne …«
»Belasten Sie sich nicht mit Details.«
»Die Polizei will mich hier verstecken.«
Eléni lachte.
»Haben Sie gezahlt?«, fragte Maria.
»Sie unterschätzen mich.«
»An Kommissar Gerakákis?«
»Ich habe es nicht nötig, einen Kommissar zu bestechen.«
Die Aktivisten packten Seile und Werkzeug zusammen.
»Ich habe dem Kommissar meine Geschichte schon
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