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Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll

Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll

Titel: Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Hensel
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Sie fuhr sich mit der Zunge über Ober- und Unterlippen und wackelte mit ihrer schmalen Hüfte. »Ich kann mit Mund und zwischen die Beine.«
    »Wie heißt du?«
    »Chanell.«
    »Klaust du für deine Mama?«
    »Ich soll Sachen kaufen.«
    »Was für Sachen?«
    »Creme. Gummis gegen Kinder.«
    »Kinder wie dich?«
    Sie senkte den Kopf.
    »Wofür braucht deine Mama die Gummis?«
    »Gegen Kinder.«
    »Lauter!«
    »Mama braucht Gummis gegen Kinder!«
    »Gegen Kinder wie?«
    Ihr fliehendes Kinn bebte. »Gegen Kinder wie mich.«
    Kinder waren nie zu jung für die Wahrheit. Schon gar nicht dieses Kind. Chanell war dreckig und obszön. Sie brauchte Geld. Gabriel hatte sie in der Hand. Er fühlte sich wieder klar.
    »Willst du mit mir Sex machen?«, flüsterte sie.
    Er dachte an die Deutsche. Vor einer halben Stunde war ein neuer Anruf gekommen: Sie war in Athen. Sie wohnte am Omónia-Platz, im Titania-Hotel. Er kannte das Hotel. Es würde nicht schwer sein, sie dort zu töten. Aber er sah verschwommen die Umrisse eines Planes. Er fühlte, dass die Deutsche in diesem Plan einen wichtigen, vielleicht entscheidenden Platz einnehmen konnte. Und dieses dreckige kleine Mädchen, das Angst vor ihm hatte und seinen Penis in den Mund oder zwischen die Beine nehmen wollte – es war ein geeignetes Werkzeug.
    »Zieh deinen Rotz hoch«, sagte er.
    Chanell zog ihren Rotz hoch.
    »Laufe zwanzig Schritte hinter mir.«

23
    Im Portemonnaie hatte sie noch acht Euro zehn Cent.
    Sie hatte ein Metroticket kaufen müssen, von Kateháki bis Monastiráki. Sie hatte sich ein Käsebrötchen geleistet. Auf der Toilette eines Restaurants hatte sie ein paar Schlucke Wasser getrunken. Das Wasser hatte ekelhaft nach Chlor geschmeckt.
    Maria ging durch die winkeligen Gassen von Pláka. Überall sah sie Touristen mit Eistüten in der Hand. Sie fotografierten die puppenstubenhaft restaurierten Häuser mit schiefen Dächern und bunten Fensterläden. Sie kauften Straßenhändlern überteuerte Souvenirs ab. Maria hatte Lust, sich wie eine Touristin zu fühlen, wenigstens für eine halbe Stunde. Sich zum Beispiel in dieses Café mit der roten Markise zu setzen. An einem Frappé zu nippen, auf den Fernseher neben der Tür zu schauen, die neuen Bilder an sich vorbeiziehen zu sehen.
    Bloß gab es keine neuen Bilder.
    Ein Patrouillenschiff der Küstenwache war beschossen worden, angeblich von einem Flüchtlingsboot. Ein Soldat war tot, drei weitere verletzt. Das Flüchtlingsboot war in türkische Gewässer entkommen, das Schiff der Küstenwache hatte ihm nicht folgen, es auch nicht versenken dürfen – EU-Richtlinien und internationale Konventionen lieferten Griechenland schutzlos seinen Feinden aus. Sondersendungen zeigten in Endlosschleife die immer gleichen, unscharfen und verwackelten Bilder: Ein Soldat, tot an Deck. Das Flüchtlingsboot, mit ungewöhnlich starkem Motor und einigen vermummten Gestalten. Interview mit dem Kapitän: Das Boot hatte einen Motorschaden vorgetäuscht, um aus nächster Nähe das Feuer auf seine Männer zu eröffnen. Einige der Vermummten hatten antigriechische Parolen gerufen. Wer hatte diese angeblichen Flüchtlinge mit Waffen versorgt? Wieso wurde das Boot von den Türken versteckt? Wer sollte das Dementi aus dem türkischen Außenministerium glauben? Live-Schaltungen zeigten erste Demonstrationen auf Chíos und Lésbos, zwischen deren Küsten sich der Anschlag ereignet hatte. Wütende Frauen, Männer, sogar Kinder, die skandierten und Transparente hochhielten: πόλεμος! Krieg!
    »Dir bringe ich aus Athen nichts mit!«
    »Auch nichts Schönes?«
    »Ganz bestimmt nichts Schönes!«
    Es war Marias Versprechen an Julian gewesen. Aber wie sollte sie ihr Versprechen halten, mit acht Euro zehn? Sie kannte sein Kinderzimmer. Vollgemüllt mit Bauklötzen aus Naturholz, Malkästen mit Öko-Tusche, Bilderbüchern aus Recyclingpappe, die seine kognitiven Fähigkeiten fördern sollten. Da vorn, vor dem Geschäft in der Athinás hingen kleine, olivgrüne Westen mit Taschen, Reißverschlüssen und einem Sternenbanner auf der Brust. Julian würde so eine Weste lieben. Er würde sie am Strand tragen, bis Undine sie ihm mit Schreien des Entsetzens vom Körper riss:
    »Nichts mit Militär! Nichts mit der Flagge einer Invasionsarmee!«
    Maria war ohne Öko-Tusche aufgewachsen. Kein Fahrrad, aber ein Pony. Kein Lerncomputer, aber die Weisheit ihrer Großmutter. Keine Spritze beim Zahnarzt, aber ein Schluck Wodka. Kognitive Fähigkeiten?

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