Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll
was er sagte. Einschnitte und Opfer. Schmerzhafte Entscheidungen. Verantwortung für das Ganze. Scheideweg. Künftige Generationen. Keine Alternative. Die Stimme der Vernunft, niemand wollte sie hören. Die Passanten pfiffen und lachten, riefen höhnische Witze, wie zu einem Boxer, der nur noch einsteckt und nicht mehr austeilt.
Schnitt. Neuer Politiker, neue Szenerie.
Wieder ein Rollfeld. Doch im Hintergrund keine behäbige Regierungsmaschine, sondern ein Hubschrauber mit drehenden Rotoren. Journalisten, Mikrophone – und der junge Politiker, den sie heute Morgen auf BBC gesehen hatte. Er trug Hemd ohne Krawatte, kein Sakko. Die Unterarme waren frei, die Pilotenuhr betonte das kräftige Handgelenk. Ein Mann, der zupackte. Er musste sein großes Kinn nicht nach vorn recken; alles an seiner Haltung zeugte von Entschlossenheit, Mut, dem Willen zum Handeln. Die Passanten in der Fußgängerzone nickten, applaudierten, einige reckten die Fäuste. Es ging nicht mehr um den Beschuss in der Ägäis, um den toten Soldaten. Der Soldat war Symbol geworden für die Schwäche und Demütigung des ganzen Landes. Für die Pleite der Banken, den Müll auf den Straßen, die Bettler in den Fußgängerzonen, die ΕνοικιAζεται-Schilder in den Schaufenstern, die Ratten im Rinnstein. Frage einer Reporterin, vom Minister eine zornige Antwort. Ein fester Blick in die Kamera. Die letzten Sätze gingen im Jubel auf der Fußgängerzone unter. Eine junge Frau, die mit ihrer Hornbrille und der Jutetasche aussah wie eine Studentin auf Lehramt, klatschte begeistert in die Hände.
»Wer ist das?«, fragte Maria.
»Dimítros Doukákis«, antwortete die Frau. »Minister für Bürgerschutz.«
Der Minister bestieg den Militärhubschrauber fast mit einem Sprung, drehte sich aber nicht noch einmal um. Er winkte nicht in die Kameras, die Lage war zu ernst für eitle Gesten. Abheben des Hubschraubers, Applaus des Volkes in der Fußgängerzone.
Einer begann, immer mehr fielen ein. Junge Männer mit schwarzen Hosen und geschorenen Köpfen, ältere Männer mit Schmerbauch und Bierdose, Frauen mit Einkaufstüten und Kinderwagen: Sie sangen ein Lied, einige hielten den rechten Arm nach vorn gestreckt.
»Was singen die?«
»Die Nationalhymne.«
Die Studentin versuchte zu übersetzen. »Klinge vom Schwert … scharf und spitz … Sklavenkette zerbrochen … Knochen, voll Wut …«
Sie brach ab, ihr Englisch war nicht gut genug.
»Besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte sie.
»Warum?«
»Wegen Ihrer blonden Haare.«
»Viele Frauen hier haben blonde Haare.«
»Aber Ihre sind nicht gefärbt.«
Hinter Maria steigerte sich der Gesang zum Grölen. Sie ging schneller. Sie schaute sich um. Niemand folgte ihr. Aber Männer in schwarzen Jeans und Stiefeln kamen ihr entgegen.
Sie wich aus in eine Ladenpassage. Geschlossene Geschäfte, vergitterte Treppenaufgänge. Schlafsäcke und leere Weinflaschen, Gestank von Urin. Sie hörte Schritte. Vielleicht nur ihr Echo. Der Gang endete am heruntergelassenen Gitter eines Ausgangs. Nackte Schaufensterpuppen grinsten sie an. Sie ging schneller. Wie kam sie hier raus? Wieder die Schritte. Eine kranke Taube kauerte zwischen Abfällen und starrte sie an. Da vorn, Licht! Sie lief. Sie gelangte ins Freie, außer Atem.
Sie hatte Durst. Sie war erschöpft. Nirgends eine Bank, um sich zu setzen. Wo war sie? Alle Seitenstraßen in Athen sahen gleich aus. Billig hochgezogener Beton. Aus einem offenen Fenster der Sommerhit: »Baa-baa-bi-baa-boo.« Sie musste etwas trinken. Bei der Erinnerung an das Chlorwasser wurde ihr übel.
Sie kam an eine Straßenkreuzung. An einer Ecke stand ein Kiosk. Einen Euro legte sie als Obergrenze fest für eine Flasche Wasser. Neben dem Verkaufsfenster stand ein Kühlschrank voller Softdrink- und Wasserflaschen. Neben dem Kühlschrank hing ein Plakat: Angela Merkel in SS-Uniform. Dann lieber Durst.
Wenn diese Griechen ihr Land so liebten – warum räumten sie nicht endlich den Müll weg? Warum verplemperten sie ihre Zeit mit Singerei und dämlichen Plakaten?! War vielleicht zu einfach gefragt. Im Philosophiekurs hatte sie gelernt, die einfachen Fragen sind die besten. Sie hatte ihre Hand gehoben und gefragt: Warum sind einfache Fragen die besten? Die Klasse hatte gelacht. Der Lehrer hatte gestammelt und einen romantischen Philosophen zitiert, keiner hatte die Antwort begriffen. Warum fiel ihr das ein? Ausgerechnet jetzt? Ihre Gedanken wurden wirr. Sie brauchte etwas zu trinken!
Sie
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