Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll
die Tränen waren in Sekunden versiegt. Chanell war zum Hotel gelaufen, hatte gegrinst und den Mittelfinger gezeigt.
Jetzt stand Maria allein in der Gasse. Die Bilder des Videos kamen zurück. Sie versuchte, sie aus ihrem Kopf zu drängen. Es gelang nicht. Jetzt hörte sie sogar Schreie, obwohl das Video stumm gewesen war. Die alte Frau ohne Zähne, mit goldenen Armreifen um die ledrige Haut – sie schrie. Der Junge im Arm seiner kotzenden Mutter – er schrie. Alle diese Menschen schrien in ihrem Kopf, schrien sie an.
Sie hörte Schritte. Sie drückte sich ins Halbdunkel eines Hauseingangs. Ein junger Mann, höchstens zwanzig. Schlank, große braune Augen unter schwarzen Locken. Romantischer Indie-Typ. In Berlin hätte er leicht ein Mädchen für die Nacht gefunden. In Athen war es wohl nicht so einfach. Eine der Afrikanerinnen stürzte auf ihn zu, sie wurden sich mit wenigen Worten einig. Sie gingen ins Hotel. Die Rezeption musste im ersten Stock liegen. Maria sah nur eine Treppe mit rotem, abgewetztem Teppich auf den Stufen. Wieder hörte sie Schritte. Sie erkannte den mittelgroßen Mann mit dem dünnen Haar sofort. Er trug Jeans, Polohemd, über der Schulter eine hellgraue Sporttasche. Er blickte sich kurz um. Er stieß die Glastür des Hotels auf und ging die Stufen hoch. Sie wartete. Sie schaute hoch, sie sah im vierten Stock Licht angehen. Das Licht brannte kaum eine halbe Minute – nicht lang genug, um sich auszuziehen für die Nacht. Maria verließ ihre Position im Hauseingang, postierte sich hinter einem Lieferwagen.
Er kam aus dem Hotel, schaute sich um. Er trug jetzt eine Schirmmütze. In der Hand hielt er den Stahlkoffer. Maria folgte ihm Richtung Süden, vorbei an einem Pornokino, einer Kirche, einem Hotel, noch einem Pornokino. Frauen standen in den Hauseingängen, manchmal fuhr langsam ein Auto vorbei. Der Mann vermied größere Straßen und Scheinwerfer, hielt sich im Schatten der Häuser. Eine Fußgängerzone mit Kopfsteinpflaster. Geschlossene Souvláki-Stände, Handyshops, vernagelte Schaufenster. Maria musste stehen bleiben, die Schritte hallten auf dem Pflaster. Am Ende der Fußgängerzone wandte sich der Mann nach links, verschwand hinter zusammengeschobenen Sonnenschirmen.
Sie hörte Grollen und Pfeifen. Ein Wagen der Stadtreinigung näherte sich, spritzte Wasser aufs Pflaster, in die Müllhaufen. Ratten flohen hinter die Ladengitter. Hinter dem Steuer saß ein Soldat. Also fingen die Soldaten an, sich um den Müll zu kümmern. Sie hatten Militär in den Straßen der Stadt. Maria ging schneller, lief im Lärmschutz des Reinigungswagens. Das Wasser roch beißend nach Chlor.
Wieder eine Nebenstraße. Sie sah die Silhouette des Mannes im Licht von Autoscheinwerfern. Geschlossene Geschäfte, über den Fenstern chinesische Schriftzeichen und Lampions. Sofokléous, die Athener Chinatown. Der Mann ging, knapp fünfzig Meter vor ihr, an einem Müllcontainer vorbei. Er hob den Koffer an, warf ihn mit einer knappen Bewegung … Der Koffer stieß scheppernd gegen den Container. Der Mann blieb stehen. Er hob den Koffer erneut, mit beiden Händen, als habe er im linken Arm nicht genügend Kraft. Er warf den Koffer in den Container. Er ging weiter in die Dunkelheit, verschwand in einer Gasse.
Maria blieb stehen.
Kein Mensch auf dem Bordstein. Hinter einigen Fenstern Licht. Sie zog sich an der Kante des Containers hoch, beugte sich hinunter, griff nach dem Koffer.
Er war leicht. Sie konnte ihn mit einer Hand aus dem Müll fischen. Sie kauerte sich hinter den Container. Der Koffer war nicht abgeschlossen. Sie klappte den Deckel hoch. Sie sah zersplittertes Holz, Leder, bunte Perlen. Ihr Herz trommelte gegen die Rippen, Schweiß brach aus. Die Reste des Dromedars. Sie sah wieder den Jungen aus dem Video, der es an sich drückte. Sie sah Körper, die sich verkrümmten, sie hörte die Schreie, das Kotzen. Ihr wurde übel, sie klappte den Deckel zu. Sie wollte den Film in ihrem Kopf abschalten. Aber sie hörte die Schreie nur lauter. Sie öffnete den Deckel. Ein Ballen schwarzer Stoff, der in dem Koffer lag, verströmte einen unangenehmen Geruch. Sie drückte ihn an ihre Nase. Sie roch Tabak, Schweiß – und etwas anderes, sie konnte es nicht zuordnen.
Sie hörte ein Geräusch, duckte sich tiefer hinter den Container. Ein Asiate im Schutzanzug, mit einer Flasche auf dem Rücken, ging von Haus zu Haus, aus einer langen Düse spritzte er Gift in Ritzen und Winkel.
Sie musste klar denken, Schritt für
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