Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll
bekreuzigte sich trotzdem.
»Kalispéra, Diákonos.«
»Kalispéra.«
Der Diákonos trug einen Sack auf seinem Rücken und sah ein bisschen aus wie der Heilige Vassílios.
»Was ist in dem Sack?«, fragte Stávros.
Der Diákonos blinzelte ihn an »Bibeln. Möchten Sie sie sehen?«
»Nein. Ja. Entschuldigung, aber die Sicherheitsstufe –«
»Sie tun nur Ihre Pflicht.«
Der Diákonos öffnete den Sack, holte eine Bibel heraus. »Es sind fünf.«
»In Ordnung.«
»Möchten Sie sie lesen?«
»Nein. Ja!« Stávros stammelte. »Sie verstehen, der Dienst …«
Der Diákonos nickte. Er ging auf die kleine Holztür zu, griff in seinen Ráson, zog ein Schlüsselbund heraus …
Gabriel fand den Kasten mit den Schaltern neben der Tür. Er schaltete bloß zwei Nischenlichter ein. Besser, wenn draußen niemand seinen Besuch bemerkte. Er hatte die Mitrópolis am Vormittag, unauffällig zwischen Touristengruppen, besucht. Fast eine Stunde lang hatte er sich hier aufgehalten, sich jedes Detail eingeprägt: Die Position der Lichtschalter, der Ikonostase, des Sarges der Heiligen Filothéi. Die Entfernung zu den Bänken, den Türen, möglichen Fluchtwegen. Nach sicheren Verstecken hatte er sich umgeschaut. Niemandem durften die alten Bibeln verdächtig scheinen. Der Bischofsthron schied deshalb aus, ebenso die Kanzel, trotz ihrer günstigen Position, leicht erhöht, vor der ersten Reihe.
Er stieg auf die Empore, versteckte zwei Bibeln links und rechts der Säulen. Er schaute auf das Display seines Telefons: vier Balken, keine Gefahr eines Funklochs im entscheidenden Augenblick. Hinter der Ikonostase schnitt er einen Spalt in die Holzverkleidung; gerade genug, um eine weitere Bibel hineinzuschieben. Drei Balken auf dem Display. Zwei Balken, hatte er beschlossen, würde er nicht riskieren. Neben dem Altar stand eine Leiter – noch bis vor einer Stunde hatten Spezialkräfte die Mitrópolis auf Sprengstoff durchsucht; aus einer Nebenstraße hatte Gabriel die Einsatzwagen beobachtet. Er schob die Leiter hinter die Königliche Tür, fand einen Gipssockel, deponierte die vierte Bibel.
Er hörte Rascheln, Knacken. Er verharrte auf der Leiter. Eine Ratte im Gebälk? Sein Blick suchte die blaue, sternenfunkelnde Kuppel ab, die Kronleuchter, das Schnitzwerk der Brüstungen und Pedimente, die goldverkleideten Ikonen. Er sah keine Bewegung. Aber wieder hörte er das Rascheln. Sein Blick blieb an einer Ikone hängen. Weiße Haut, schwarze Augen. Die Lippen halb geöffnet, als wollte sie ihm etwas sagen. Ein Geheimnis, eine Warnung. Warnung wovor? War er nicht stärker als jeder Feind? Er stand auf der Leiter und spürte, deutlich wie seit Wochen nicht, dass sein Plan gesegnet war. Dass seine Rache gesegnet war. Niemand kannte die Wahrheit. Niemand ahnte, wie viele Menschen sterben würden. Dreihundert Tote in der Kathedrale; es war bloß der Beginn.
Die fünfte Bibel, er hatte sie noch im Sack. Er stieg von der Leiter. Er kniete sich vor den Sarg der Heiligen Filothéi, prüfte den Empfang – vier Balken. Er wollte die Bibel unter das Postament schieben; da hörte er wieder das Rascheln. In der Kuppel? Hinter der Brüstung? Eine Störung. Er konnte sich nicht entscheiden, ob diese Störung wichtig war. Er kniete vor dem Sarg der Heiligen Filothéi, in der Hand die Bibel. Er fühlte das Pochen in der Schulter.
31
Zwei Afrikanerinnen in pinkfarbenen Miniröcken standen neben dem Eingang zum Hotel. Sie sahen zu Maria herüber, als witterten sie Konkurrenz. Hier also wohnte er. Gerade kam ein Mann heraus. Er hatte den Kragen hochgeschlagen, ging schnell, als fürchte er, hier erkannt zu werden. So ein Hotel also. Ein schmaler, sechsstöckiger Bau, Chanell hatte auf ein dunkles Fenster im vierten Stock gezeigt: Dort sollte er wohnen. Auf dem Weg zum Hotel hatte sie zweimal versucht, Maria die Kamera aus der Hand zu reißen. Zweimal hatte Maria ihr eine Kopfnuss gegeben – hart genug, um ein Berlin-Mitte-Kind für Tage ins Krankenhaus und anschließend in die Traumatherapie zu bringen. Chanell hatte nur gemault und ihren Rotz hochgezogen.
Vor dem Hotel hatte Maria den Chip aus der Kamera genommen. »Kamera für dich, Fotos für mich.« Chanell war in Tränen ausgebrochen. Sie hatte die Hände gerungen, auf den Chip in Marias Hand gezeigt. Und Maria hatte gezweifelt: Vielleicht war es keine gute Idee, den Chip zu behalten? Der Mann würde Fragen stellen. Chanell müsste von Maria erzählen. Also hatte sie ihr den Chip zurückgegeben,
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