Das Pestkind: Roman (German Edition)
winkte ihre Damen näher heran.
»Ich verspreche dir, es wird ganz zwanglos.«
Anna Wrangel hatte Wort gehalten und auf ein größeres Abendessen oder Fest verzichtet. Es versammelten sich nur die Generäle und deren Damen an Tischen, die um ein großes Kohlebecken aufgestellt worden waren. Duftende Reh- und Wildschweinbraten lagen auf großen Platten zwischen silbernen Kerzenständern. Marianne saß neben Elise am oberen Ende des Tisches. Sie fröstelte. Die Kohlenschale stand zu weit von ihr entfernt, und hinter ihr lag der Zelteingang, durch den kühle Luft hereinwehte, wenn die Diener ein und aus gingen.
Elises Verlobter, Wilhelm von Theiss, war ebenfalls nicht von der Jagd zurückgekehrt. Sie trug den Verlust allerdings mit Fassung, denn die Ehe mit dem zwanzig Jahre älteren Mann war arrangiert gewesen, und sie hatte sich stets vor dem pickeligen Gesicht des Mannes geekelt.
Vergnügt saß sie neben Marianne und lauschte aufmerksam ihrem Tischnachbarn, einem Grafen von Wenz, der eine Begebenheit aus der Schlacht von Magdeburg von sich gab und sich köstlich zu amüsieren schien, während er von Mord und Totschlag erzählte.
Marianne saß wie eine blasse Marionette am Tisch. Ihr Teller war leer, denn bereits der Geruch des Essens löste Übelkeit in ihr aus. Überall lachten die Leute, und auf der Orgel wurde fröhliche Musik gespielt. Anna Wrangel unterhielt sich angeregt mit dem evangelischen Pfarrer, einem Claus von Hebenstein, der sich neuerdings um das Seelenheil des Trosses kümmerte.
Marianne konnte den kleinen dunkelhaarigen Mann mit den schmalen Lippen nicht leiden. In den letzten Tagen war er um sie herumgeschlichen und hatte versucht, sie zu trösten. Ständig hatte er von der Güte Gottes und anderen Dingen gesprochen, die Marianne bereits wieder vergessen hatte. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien und fortgejagt – und das nicht nur, weil er ein Evangelischer war, sondern weil sie allmählich den Glauben an einen Gott verlor. Was war das für ein gütiger Gott, der ihr ein Unglück nach dem anderen brachte und sie immer wieder ihrem Schicksal überließ? Er war grausam, schickte ihnen Krankheiten und Krieg, anstatt sein Volk zu beschützen. Doch das konnte sie dem Priester natürlich nicht sagen.
Anna Wrangel schien den Mann zu mögen. Sie lachte mit ihm und legte ihm vertrauensvoll die Hand auf die Schulter.
»Komm schon, Marianne.« Elise riss sie aus ihren trüben Gedanken. »Du siehst schon wieder so traurig aus – und dabei bist du so hübsch. Lach doch ein wenig. Heute ist ein guter Tag. Immerhin ist dieser Krieg endlich zu Ende, und die Menschen können zurück nach Hause gehen.«
Marianne warf ihr einen unfreundlichen Blick zu.
Elise biss sich auf die Lippen.
»Falls sie noch ein Zuhause haben. Entschuldige, Marianne.«
Marianne nickte müde.
»Du musst dich nicht entschuldigen, Elise. Ich habe noch ein Zuhause. Es mag ein wenig anders sein als deine Heimat, aber es gibt dort durchaus Menschen, die sich freuen würden, wenn ich wiederkäme.«
Und die mich sogar dringend brauchen, fügte sie in Gedanken hinzu. Und da fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen.
Menschen, die sie brauchten – Anderl brauchte sie. Er wartete darauf, dass sie nach Hause kam. Hier gab es jetzt nichts mehr, was sie hielt. Der Mann, wegen dem sie in den Tross gekommen war, war verschwunden und wahrscheinlich tot. Der Krieg war zu Ende. Sie konnte wieder heimgehen, zurück zu Pater Franz und Anderl. Doch dann fiel ihr Blick auf Anna Margarethe. Würde sie sie gehen lassen? Wahrscheinlich nicht. Aber einen Versuch war es wert, sie zu überreden. Rosenheim war nicht weit weg. Wenn sie nach Osten gehen würde, dann würde sie gewiss den Inn erreichen, und dann wäre es ein Kinderspiel, sich zurechtzufinden.
*
In der darauffolgenden Nacht lauschte Marianne dem Regen. Sie hatte die Arme hinter ihrem Kopf verschränkt und versuchte, die Kälte zu ignorieren. Sie wusste, warum sie nicht schlafen konnte. Es gab niemanden, an dem sie sich wärmen konnte. Sie schloss die Augen. Jetzt, in der Dunkelheit, wenn sie allein war, vermisste sie Albert am meisten. Seine warme Haut und seinen Atem an ihrem Hals, ja selbst sein Schnarchen fehlten ihr. Wehmütig dachte sie an den Nachmittag am Weiher zurück, als sie sich geliebt hatten. An seine wunderschönen grünen Augen, die sie stets voll Liebe und Respekt betrachtet hatten. Niemals würde sie ihn wiedersehen. Wahrscheinlich lag er irgendwo tot
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