Das Pestkind: Roman (German Edition)
nach Rosenheim. Jetzt kann ich die Stadt noch erreichen. Du weißt doch, mein Bruder …«
Anna Margarethe hob die Hand, und Marianne verstummte.
»Ich habe dich gerade falsch verstanden. Du hast mir nicht erzählt, zurück nach Hause zu wollen, oder?«
»Doch, das habe ich«, erwiderte Marianne.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Anna wurde laut. »Deine Heimat ist jetzt bei uns. Nur weil Albert leider von uns gegangen ist, wirst du uns nicht verlassen. Gewiss wird sich ein anderer Gatte für dich finden. Du bist mein Schutzengel. Das Schicksal hat dich zu uns gebracht.«
Marianne trat näher an Anna Margarethe heran und sah sie bittend an.
»Du hast mir einmal versprochen, mir jeden Wunsch zu erfüllen, egal, was es wäre. Ich habe jetzt nur diesen einen Wunsch. Ich möchte nach Hause gehen. Mein Bruder braucht mich.«
Das Mädchen hatte recht. Sie hatte ihr versprochen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Wer hätte das an ihrer Stelle nicht getan? Immerhin hatte sie ihr und ihrem Sohn das Leben gerettet. Dass Marianne sie jetzt mit diesem Versprechen unter Druck setzen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte sie unterschätzt. Aber sie hatte Marianne liebgewonnen und wollte sie nicht verlieren.
»Aber du hast in Rosenheim doch niemanden außer deinen Bruder. Hassen dich die Menschen dort nicht? Du hast mir erzählt, dass sie mit dem Finger auf dich zeigen. Hier bist du unter Freunden. Niemand behandelt dich wie eine Geächtete. Im Gegenteil, alle bringen dir Respekt entgegen und halten dich für eine Heldin.«
In Mariannes Augen traten Tränen.
»Bitte«, flehte sie, »ich muss wissen, ob es meinem Bruder gutgeht. Das ist mir wichtiger als alles andere auf der Welt. Der Mann, den ich liebte, ist tot. Bitte erlaube mir wenigstens, heimzukehren und für Anderl da zu sein. Er braucht mich.«
Anna Wrangel atmete tief durch. Sie wusste, wie schwer die Last der Vergangenheit sein konnte. Wenn nicht sie, wer sonst konnte verstehen, was in Marianne vorging. Auch sie hatte hilflos mit ansehen müssen, wie ihre Familie getötet worden war. Wenn nur einer von ihnen noch am Leben wäre und ihre Hilfe brauchte, dann würde sie wahrscheinlich auch zu ihm eilen, koste es, was es wolle.
Seufzend gab sie nach.
»Nun gut. Wenn das dein größter Wunsch ist, dann sei er dir gewährt. Ich werde mit Carl sprechen, denn er muss natürlich zustimmen.«
Marianne sah sie strahlend an.
»Aber«, sagte sie und hob mahnend den Zeigefinger, »du wirst nicht allein gehen. Die Straßen sind nicht sicher. Zwei meiner treuesten Männer werden dich begleiten.«
Marianne nickte eifrig.
Anna Margarethe sah Marianne durchdringend an.
»Angenommen, du findest deinen Bruder und es geht ihm gut. Könntest du dir dann vorstellen, wieder zu uns zurückzukehren. Du kannst ihn auch gern mitbringen, gewiss wird sich für ihn ein Platz in unserem Gefolge finden.«
Marianne sah Anna Margarethe überrascht an. Der Frau, die sie einst so arrogant und ohne jede Herzlichkeit empfangen hatte, schien tatsächlich etwas an ihr zu liegen. Anna Wrangel spielte ihr nichts vor.
»Vielleicht. Anderl könnte es hier gefallen.«
Erleichtert seufzte Anna Margarethe.
»Gut, dann werde ich gleich beim Morgenmahl mit meinem Gatten sprechen. Wenn er zustimmt, kannst du noch heute aufbrechen.«
Marianne fiel ihr um den Hals.
»Danke! Oh, vielen Dank! Du weißt gar nicht, was für eine große Freude du mir damit machst!«
Teil III
Die Rückkehr
A lbert starrte die Decke an. Durch eine winzige vergitterte Luke über ihnen drang kaum Licht in die dunkle Zelle, einen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab es nicht, und nur ab und an drangen Stimmen von draußen herein. Er blickte auf Claude, der neben ihm schlafend auf dem feuchten Stroh lag. Er selbst kam trotz seiner Erschöpfung nicht zur Ruhe. Nagender Kummer hielt ihn wach. Immer wieder sah er Marianne vor sich. Er hatte sie mit sich genommen und ihr ein besseres Leben versprochen, war für sie verantwortlich und liebte sie, doch jetzt war sie allein und schutzlos.
Lautes Stöhnen ließ ihn zusammenzucken, und auch Claude hob den Kopf. Ihnen gegenüber lag ein weiterer Soldat, der eine offene, eitrige und übel riechende Wunde am Bein hatte. Die meiste Zeit verbrachte er in einer Art Dämmerzustand, aber wenn er zu sich kam, dann schrie und stöhnte er vor Schmerzen.
Albert kroch zu seinem Kameraden hinüber und hielt ihm den Kopf, während Claude einen Becher mit Wasser
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