Das Pestkind: Roman (German Edition)
im Wald oder wartete in einer dunklen Zelle auf seine Hinrichtung.
Irgendwann einmal, vor nicht allzu langer Zeit, hatte sie gedacht, dass alle Schweden Teufel waren, die wie grausame Tiere über alles herfielen und es in Stücke rissen, doch er hatte sie etwas anderes gelehrt. Inzwischen hatte sie so viele Schweden kennengelernt, die freundlich und nett zu ihr waren, dass sie über die Ammenmärchen lächeln musste, die erzählt worden waren. Aber waren es tatsächlich Märchen? Waren es nicht die schrecklichen Greueltaten, die den Ruf der Schweden ausmachten?
Leises Weinen riss sie aus ihren Gedanken. Verwundert horchte Marianne auf. Elise schluchzte in ihre Kissen. Marianne kroch zu der blonden Frau hinüber und strich ihr übers Haar.
»Du musst dich deiner Tränen nicht schämen«, beruhigte Marianne die Freundin.
»Ich wollte dich nicht wecken.«
»Ich habe sowieso nicht geschlafen.«
Elise griff in der Dunkelheit nach Mariannes Hand.
»Du zitterst ja.« Sie hob ihre Decke. »Komm, bei mir ist es warm.«
Marianne zögerte nicht einen Moment und kroch unter die Decke.
»Warum hast du geweint?«, fragte Marianne.
»Weil ich jetzt nicht weiß, was aus mir werden soll. Mein zukünftiger Gatte ist tot, und ich bin weit weg von zu Hause. Ich vermisse die Weinberge, unser Landgut mit den vielen Pferden. Früher sind wir oft stundenlang ausgeritten. Besonders im Herbst, wenn die Blätter bunt waren und die Reben an den Weinstöcken hingen, war es wunderbar, durch die Gegend zu streunen. Bei uns ist das Klima bedeutend milder, die Kälte hier macht mich verrückt.«
»Ich habe auch Heimweh«, sagte Marianne. »Obwohl mich keine Familie auf einem Landgut erwartet, vermisse ich Rosenheim, und besonders meinen Bruder würde ich so gern wiedersehen.«
Elise drehte sich auf die Seite.
»Wahrscheinlich werden sie uns jetzt andere Männer aussuchen.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Marianne. »Inzwischen mache ich mir tatsächlich Gedanken darüber, nach Hause zu gehen. Hier hält mich nichts mehr. Alle Menschen, die mir etwas bedeutet haben, sind tot oder fort.« Tränen traten in ihre Augen.
Elise hob den Kopf.
»Du willst fortgehen? Aber wie willst du das denn anstellen, als Frau und allein? Umbringen werden dich die Räuberbanden und Marodeure, die überall lauern. Die Straßen sind nicht sicher, auch wenn der Krieg zu Ende ist. Und hier hast du immerhin noch mich. Ich dachte, du magst mich.«
Elise suchte in der Dunkelheit nach Mariannes Hand.
»Ich schaffe das hier nicht allein. Du kannst mich doch jetzt nicht im Stich lassen.«
»Ich hab dich gern, Elise, aber ich muss gehen. Gleich morgen werde ich mit Anna Margarethe sprechen. Sie hat mir versprochen, mir jeden Wunsch zu erfüllen. Sie muss mich einfach gehen lassen.«
»Dann komme ich mit dir.« Elise richtete sich auf. »Mich hält hier auch nichts mehr.«
Marianne war gerührt. Aber sie wusste, dass das unmöglich war. Es würde schon schwierig genug werden, Anna davon zu überzeugen, sie gehen zu lassen. Elise konnte sie ihr nicht auch noch wegnehmen. Doch sie wollte das Mädchen nicht kränken.
»Wir werden sehen.«
*
Anna Wrangel stand vor dem Spiegel eines wunderbar gearbeiteten Toilettentisches aus glänzendem Mahagoniholz. Ihre Kammerzofe bürstete ihr gerade die Haare, als Marianne das Zelt betrat. Lange hatte sie an diesem Morgen mit sich gehadert, doch dann hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und war hierhergekommen.
Anna Margarethe sah Marianne im Spiegel und drehte sich erstaunt zu ihr um.
»Guten Morgen, meine Liebe.« Sie musterte Marianne neugierig. Auch ihr waren Mariannes tiefe Augenringe und die eingefallenen Wangen nicht entgangen. Was sie aber in Anbetracht der Tatsache, dass Mariannes Verlobter verschollen und vermutlich tot war, für normal hielt.
Doch heute lag in Mariannes Augen eine seltsame Art von Entschlossenheit, die sie noch nie bei ihr gesehen hatte.
»Was führt dich denn zu so früher Stunde zu mir?«
»Ich wollte dich um etwas bitten.« Marianne rieb sich nervös die Hände. Irgendwie gestaltete sich die Sache schwieriger, als sie angenommen hatte. Anna Wrangel hielt ihren Arm geduldig ihrer Zofe hin, die ein filigran gearbeitetes, goldenes Armband darum legte. »Ich würde gern nach Hause gehen.«
Marianne atmete tief durch. Irritiert sah Anna Margarethe sie an, trat vom Waschtisch weg und bedeutete der Zofe, ihr ein Glas Wasser einzuschenken.
»Was möchtest du?«
»Ich möchte wieder zurück
Weitere Kostenlose Bücher