Das Pestkind: Roman (German Edition)
Rosenheim waren es noch mindestens vier Tagesmärsche. Mit den Schifffahrern würde es zwar nicht viel schneller gehen, aber immerhin war sie nicht schutzlos und allein.
»Kommst du, Alois?« Wilhelms Stimme drang an ihr Ohr. »Wir warten nur noch auf dich.«
Alois zwinkerte Marianne zu.
»Es wird schon alles gutgehen. Balthasar steht heute am Ruder. Er ist ein erfahrener Mann und wird auf dich achten.«
Marianne warf dem Mann einen kurzen Blick zu. Er zog seine Mütze, deutete eine Verbeugung an, und auf seinem ebenmäßigen, ungewöhnlich braunen Gesicht zeigte sich ein Grinsen.
»Stets zu Diensten, mein Fräulein.«
Alois hob lachend die Hand.
»Balthasar, du sollst ihr keine verliebten Nasenlöcher machen, sondern auf sie und das Boot aufpassen.«
Der dunkelhaarige Bursche setzte eine unschuldige Miene auf.
»Ist eben hübsch, Eure Freundin.« Er grinste Marianne erneut an, wandte sich dann aber wieder seinem Ruder zu.
Marianne lächelte.
Alois zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Es tut mir leid. Einen besseren Beschützer konnte ich auf die Schnelle nicht ausfindig machen.«
»Wieso? Er ist doch wunderbar, denn er wird mich zum Lachen bringen, was ich bei Fredls Griesgrämigkeit gewiss gebrauchen kann.«
Alois wandte sich um.
»Unterschätze den Alten nicht, er kann netter sein, als du denkst.«
Marianne schwang ihre Beine über die Reling.
»In diesem Leben nicht mehr.«
Kurze Zeit später saß sie tatsächlich wieder vor der Küche an der frischen Luft. Fredl hatte ihr eine Schale Haferbrei und einen Becher warmes Bier in die Hand gedrückt und auf die Tür gezeigt. Er hatte etwas von Essen gemurmelt und sich dann wieder einem großen Berg Zwiebeln zugewandt.
Genüsslich aß Marianne den warmen Brei, den der mürrische Koch sogar mit Honig verfeinert hatte, und reckte ihr Gesicht in die Sonne, die von einem wolkenlosen Himmel schien. Der Inn schimmerte grün, und Kraniche flogen auf ihrem Weg in den Süden über sie hinweg. Marianne hatte trotz der Ruhe, die der Morgen ausstrahlte, ein seltsames Gefühl im Bauch. Sie blickte auf das Wasser, das ihr so große Angst gemacht hatte. Die Wellen schlugen sanft gegen das Holz, trotzdem wurde ihre Unruhe stärker. Sie fühlte, wie ihr ein Schauer über ihren Rücken lief. Irgendwo in diesem Wasser trieb der tote Toni, wurde vielleicht bald an ein fremdes Ufer geschwemmt oder blieb für immer auf dem Grund des Flusses.
Balthasar hatte Marianne die ganze Zeit über schweigend beobachtet. Er konnte gut verstehen, warum der Schiffsmeister sich für das Mädchen einsetzte, denn sie war ausgesprochen hübsch, und ihre blauen Augen bildeten einen auffallenden Kontrast zu ihrem schwarzen Haar und ihrer hellen Haut. Nur war sie etwas dünn, aber dieser Umstand ließ sich gewiss beheben. Er hatte bemerkt, wie Alois Greilinger das Mädchen ansah, und in diesen Blicken lagen mehr als freundschaftliche Gefühle.
Er räusperte sich, und Marianne schaute auf. Sie versuchte zu lächeln und nahm einen Schluck von ihrem Bier.
»Du konntest nichts für Toni tun«, sagte Balthasar plötzlich.
Marianne sah ihn überrascht an.
»Warum glaubst du, dass ich an ihn gedacht habe?«
Balthasar lächelte.
»Deine Augen haben dich verraten. Du bist traurig.«
»Bist du es denn nicht?«, fragte Marianne.
Balthasar zuckte mit den Schultern.
»Doch, irgendwie. Ich hatte Toni gern. Er wäre ein guter Schifffahrer geworden, aber der Flussgott hatte anderes mit ihm vor.«
Marianne stellte den Becher auf den Boden.
»Glaubst du wirklich an diesen Flussgott?«
Balthasar zog die Augenbrauen hoch.
»Aber natürlich. Wir alle tun das. Der eine mehr« – er deutete auf die Küchentür –, »der andere weniger. Aber dass es ihn gibt und er unser Schicksal auf dem Wasser lenkt, daran glaube ich ganz fest.«
»Du denkst also auch, dass ich schuld an Tonis Tod bin?«, fragte Marianne.
Balthasar schüttelte den Kopf.
»Nein, das denke ich nicht.« Er grinste. »Toni war ein zu guter Schiffsjunge, er wäre dem Flussgott vielleicht zu mächtig geworden, wer weiß. Er hat ihn geholt, das ist Schicksal.«
Marianne fielen die Schutzpatrone der Schiffsleute ein.
»Warum haben denn eure Heiligen, Nikolaus und Nepomuk, nicht auf ihn achtgegeben?«
Balthasar sah Marianne überrascht an.
»Sie müssen auf eine Menge Schiffsleute achten, auf allen Flüssen der Erde. Da kann ihnen so ein Flussgott schon mal ein Schnippchen schlagen.«
Marianne grinste.
»Du legst dir
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