Das Pestkind: Roman (German Edition)
hatten.«
Die Freude in ihren Augen verschwand.
»Vielleicht hätte ich doch nicht fortgehen sollen, auch wenn Albert tot ist. Irgendwie wäre es schon weitergegangen. Es mag sich in deinen Ohren komisch anhören, aber für mich war der Tross meine Heimat geworden, die ich aufgegeben und verloren habe.«
»Und wenn du einfach wieder zurückgehst?«
Marianne warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Wie denn? Die beiden Männer, die mich begleiteten, sind tot, und allein finde ich den Weg niemals.«
Alois antwortete nicht darauf, sondern legte seinen Arm um sie und zog sie näher an sich heran.
Seine Nähe und Wärme taten ihr gut.
»Das wird schon irgendwie werden«, flüsterte er.
Marianne schloss die Augen und deutete ein Nicken an.
»Pater Franz wird sich um dich kümmern, und Anderl wird vor Freude ganz aus dem Häuschen sein, wenn er dich wiedersieht.«
»Ja«, murmelte Marianne, kuschelte sich in seinen Arm und schlief ein.
Alois Greilinger hob sie sanft in die Höhe und trug sie zur Funkelzille hinüber. Die meisten Lagerfeuer waren inzwischen erloschen, und auch die Musik war verstummt.
Vorsichtig kletterte er über die Reling und öffnete die Tür zum Frachtraum. Marianne sank auf ihr Schlaflager. Liebevoll deckte er sie zu und musterte ihr blasses Gesicht. Sie war so wunderschön, zerbrechlich und gleichzeitig stark. Er konnte gut verstehen, warum der Schwede sich in sie verliebt hatte, denn auch ihm wurde bei dem Gedanken, dass er sie morgen ziehen lassen musste, schwer ums Herz. Seufzend wandte er sich ab, doch Marianne hielt ihn plötzlich zurück.
»Bitte, geh nicht, bleib bei mir. Lass mich nicht allein.«
Überrascht sah er sie an. Sie rückte ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er nahm die Einladung an und legte sich neben sie. Er war nervös, tatsächlich hatte diese Frau es geschafft, ihn um seine Fassung zu bringen. Marianne legte ihren Arm um ihn und kuschelte sich wie ein Kätzchen an seine Brust. Es war seltsam. Er kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen war, und hatte sie immer beschützen wollen. All das Gerede der Leute und die dummen Vorurteile verstand er nicht. Doch jetzt kam ihm Marianne irgendwie anders vor. Sie war nicht mehr die Geächtete, die alle verurteilten. In seinen Augen war sie eine starke Frau, die für sich und ihren Bruder kämpfte und nicht aufgab, und dafür bewunderte er sie. Er wusste, dass er sich in sie verliebt hatte. Er genoss ihre Nähe und hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, das zu tun, was sein Körper forderte, aber er konnte nicht. Alles sollte so bleiben, wie es war. Unbeholfen zog er die Decke über sie beide und musterte noch einmal ihr Gesicht. Er atmete tief durch. Wenn er es könnte, dann würde er all ihre Wünsche erfüllen und ihr die Traurigkeit nehmen.
*
Marianne saß am Heck der Funkelzille. Der Morgen graute und tauchte den klaren Himmel in sein im Osten rötlich schimmerndes Licht. Das allein war schon ein Schauspiel für sich, aber heute faszinierte sie etwas anderes. Die Berge, sie waren wieder da. Die ganze Zeit hatte sie sich gefragt, wann sie die vertrauten Gipfel wiedersehen würde. Seit Tagen schon hatte sie hoffnungsvoll den Horizont abgesucht, aber stets hatten tiefhängende Wolken den Blick versperrt und den Horizont verdunkelt. Über den weiß gefrorenen Wiesen hing leichter Bodennebel, der im Licht des Morgens lebendig wirkte. Alma hatte ihr früher Geschichten über den Nebel erzählt. Von Elfen und Feen, die sich darin verborgen hielten und durch die milchige Wand die Menschen beobachteten. Eigentlich hatte sie Alma diese Geschichten nie wirklich geglaubt, aber wenn sie heute auf die hellgrauen Schwaden guckte, glaubte sie tatsächlich, Gesichter darin zu erkennen.
Die Gipfel der Berge waren weiß, schimmerten rötlich und wirkten wie gemalt. Wie sehr hatte sie diesen Anblick vermisst, hatte sie doch geglaubt, dass sie sie niemals wiedersehen würde. Vergessen waren plötzlich die Zweifel, ob ihre Flucht wirklich richtig gewesen war. Sie war zu Hause, hierher gehörte sie. Die Berge, der Inn und Rosenheim waren ihre Heimat.
Sie saß schon eine ganze Weile hier draußen. Alois’ Schnarchen hatte sie geweckt. Es war bitterkalt. Sie hatte sich fest in ihren Umhang gewickelt, fror aber trotzdem. Vielleicht sollte sie wieder zurückgehen und noch einmal die Nähe des Schiffsmeisters suchen, doch sie zögerte. Sie wusste, dass es besser war, hier draußen zu bleiben. Die Sehnsucht nach der Nähe eines
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