Das Pestkind: Roman (German Edition)
manchem Grab wucherte. Vor einem Grab im hinteren Teil des Friedhofs blieb sie stehen. Maria Leitner, geliebte Ehefrau und Mutter, stand auf dem Grabkreuz, an dem der Rost bereits seine Spuren hinterlassen hatte. Marianne fuhr liebevoll mit dem Finger über die geschwungenen Buchstaben. Auf dem Grab teilten sich Efeu und Brombeerranken den Platz mit Glockenblumen und Margeriten. Die Erinnerungen an die geliebte Mutter waren für Marianne wie ein undurchsichtiger Nebel, durch den die Melodie eines Kinderliedes drang, das sie ihr immer vorgesungen hatte. Alma hatte gesagt, sie wäre ein guter und gottesfürchtiger Mensch gewesen, doch selbst die Erinnerungen an die alte Küchenmagd verschwammen immer mehr.
»Ja, wen haben wir denn da. Marianne, Kind, was treibt dich denn an einem so heißen Sommertag zu uns heraus?«
Marianne drehte sich um. Pfarrer Angerer stand, auf einen Stock gestützt, vor dem Eingang der Kirche und lächelte sie an.
»Grüß Gott, Herr Pfarrer, ich wollte der Hitze der Stadt entfliehen.«
Der Pfarrer trat zu Marianne.
»In der Stadt ist es gewiss noch unerträglicher.« Er deutete zum Pfarrhaus, das direkt neben der Kirche lag. »Leistest du einem alten Mann ein wenig Gesellschaft?«
»Gern«, erwiderte Marianne und verließ mit dem Priester den Kirchhof.
Der winzige Innenhof des Pfarrhauses lag im hellen Sonnenlicht. Der Priester bot Marianne einen Platz auf einer Bank an, die neben der Eingangstür im Schatten stand, und verschwand im Haus. Kurze Zeit später kam er mit einem Krug Wasser und zwei Bechern in den Händen zurück, stellte alles neben sich auf die Bank und setzte sich stöhnend. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Marianne wartete geduldig, schenkte von dem Wasser ein und reichte ihm, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, den Becher. Dankbar nahm Pfarrer Angerer ihn entgegen, trank mit großen Schlucken und musterte dann neugierig seinen unerwarteten Gast. Richtig erwachsen war Marianne geworden. Er erinnert sich an das kleine Mädchen, das er damals aus dem winzigen Verschlag im Stall gezogen hatte. Er seufzte. Der Makel des Pestkinds hatte sie bis heute verfolgt. Er konnte sich schon denken, warum sie wieder einmal hergekommen war. Marianne schien seine Gedanken zu erraten. Sie stellte ihren Becher ab und sah ihn traurig an.
»Niemals werden die Leute damit aufhören, mich zu beschimpfen. Könnt Ihr mir sagen, was ich Gott getan habe? Warum hat er mich nicht zu sich geholt? Alle sind fort, nur ich bin noch hier.«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der alte Pfarrer schulterzuckend. »Bist du deshalb gekommen, um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten?«
»Vielleicht«, erwiderte Marianne. »Es gibt Tage, da ist es erträglich, dann beachtet mich niemand, und ich bin wie all die anderen. Doch dann beschimpfen sie mich wieder, oder Hedwig verprügelt mich.« In ihre Augen traten Tränen. Sie griff in ihre Rocktasche und zog die kleine goldene Kette mit dem Engelanhänger heraus. Liebevoll strich sie mit den Fingern darüber und zeigte ihn dem Priester.
»Alma hat mir den Engel geschenkt. Sie hat gesagt, er hätte einmal meiner Mutter gehört und würde mich beschützen, mir Glück bringen. Doch ich traue mich nicht, ihn zu tragen, denn Hedwig würde ihn mir gewiss wegnehmen.«
Pfarrer Angerer schaute auf den Anhänger und lächelte.
»Die gute Alma. Sie war etwas Besonderes. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.«
»Wird es irgendwann einmal erträglich oder anders werden?« Marianne sah den Priester fragend an.
Pfarrer Angerer zuckte mit den Schultern.
»Wenn ich das nur wüsste, mein Kind. Die Leute glauben das, was sie glauben wollen, und sind durch Neid und Missgunst blind geworden für die Wunder unserer Welt. Du bist eines dieser Wunder, und darauf solltest du stolz sein und dich nicht grämen.«
In Marianne stieg Wut auf, sie ließ den Engel los und sprang auf. »Ich will aber kein Wunder sein. Ich will einfach nur wie all die anderen sein und nicht das Pestkind, das alle hassen und verurteilen.«
Pfarrer Angerer sah sie überrascht an. So aufbrausend kannte er sie gar nicht, aber er konnte sie verstehen. Die Beschimpfungen und die ständige Ausgrenzung zehrten an ihren Nerven.
»Aber alle verurteilen dich doch nicht«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Pater Franz und die Mönche des Klosters halten zu dir, und Anderl doch auch. Er verteidigt dich, wo er nur kann.«
Marianne lachte laut auf und schüttelte den Kopf.
»Damit ihn die Kinder mit Dreck
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